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Sonntag, 22. Juni 2008

220608/ Marion Starke/ Murano

Glaswunder

Nördlich des Stadtzentrums von Venedig befindet sich die Inselgruppe Murano. Bereits seit 1292 war Murano die Hauptinsel der Glasindustrie Venedigs. Heute weltweit bekannt durch hohe Qualität und Stabilität, aber vor allem durch mannigfaltig kunstvolle Farben und Formen (Flügel-, Fadenglas und mehr). Schon früh von der Glaskunst des Orients angeregt, wurden neben Gläsern, Vasen und Schalen zudem auch bunte Glasflüsse für Mosaiken hergestellt. Dem Herstellungsgeheimnis verbunden, war es den Glasbläsern von Murano unter Todesstrafe nicht gestattet die Insel zuverlassen.

Am offenen Feuer ausgeführt, entdeckten die Glasbläser neue Methoden zylindrisch geblasenes Spiegelglas herzustellen und große Glasflächen zugießen. Das kostbare Glas war bei europäischem Adel und Geistlichkeit besonders beliebt und ist in vielen Renaissance- und Barockschlössern zu finden. Inneneinrichtungen und Spiegelkabinette kleiden sich in cristallo. Wasserspiegelungen der Lagunenstadt findet man in den Salons wieder, als Glasspiegelungen: Abbildung, Widerspiegeln, Illusionen.

Mundgeblasene Kunstwerke aus Original Muranoglas, die keinen weiteren Sinn haben als zu erfreuen und zu verstauben, werden in Quantitäten an Touristen verkauft. Durchgefärbtes Millefioriglas mit blumenähnlichen, rundlichen Mustern, von bester Qualität, in meinem Koffer.

220608/ Marion Starke/ Tintorettos Verkündigung

Jacopo Tintoretto: "Die Verkündigung". 1583–1587, Scuola Grande di San Rocco, Venedig

Die Malschule Scuola Grandi di San Rocco aus dem 16. Jh. ist durch ihren außerordentlichen Besitz über sechsundfünfzig Bilderzyklen von Tintoretto berühmt. Alle drei Säle der Scuola wurden von Tintoretto mit Gemälden bestückt/beschmückt, auch die Deckengemälde stammen von ihm, so dass die Scuola als sein Gesamtwerk angesehen werden kann. Die Gemälde sind eine der bedeutendsten Bildersammlungen der Welt und der umfangreichste biblische Zyklus der ital. Kunst. Angefangen mit Adam und Eva, hat Tintoretto bis hin zur Erlösung der Menschen durch den Opfertod Christi den christlichen Glaubenskosmos entworfen.

Das Bild, das dem Besucher der Scoula di San Rocco als erstes ins Auge fällt, ist die Verkündigung des unteren Saals. In besonders dynamisch-dramatischer Weise erzählt Tintoretto hier die Verbindung der tranzendenten und der irdischen Welt.

Erzengel Gabriel fliegt in vollem Schwung ins Gemach der Maria. Das Haus ist einem Abbruchhaus gleich: bröckelnde Wände, ohne Tür und Fenster. Im Kontrast dazu stehen der Fußboden aus zweifarbigem Marmor und die kostbare Kassettendecke. Vor allem aber der prächtig rot leuchtende Baldachin, der üppig über das Bett im Hintergrund trohnt. Die jungfräuliche Maria, fleißig und fromm, mit Nähkorb, Spindel und Lektüre im Schoß. Sie wird überrascht vom Einfall Gabriels. Überfall. Über ihm fliegt eine ganze Putti-Schar. Wirbelwind. In helldunkelen Lichtern und Schatten überstrahlt die Taube des Heiligen Geistes das Geschehen. Der bibelkundige Bildbetrachter weiß um die Verkündigung und den Verweis auf die Taube: “Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.” (Lk 1,35).

Im linken Teil des Bildes, draußen, vor einem hellen Morgenhimmel, sägt der tüchtige Josef Holzbretter zurecht. Er arbeitet an der Wiederherstellung einer venezianischen Palastruine. Alles recht virtuos gemalt. Ein Rebus ist der leere Stuhl. Ein ganz einfacher Stuhl, in der Mitte des Bildes angeordnet, grad unter dem leuchtenden Erzengel, und gegenüber der erschrockenen Maria. Ein Sperrmüllstuhl mit zerschlissenem Bastgeflecht. Ein Platz. Ein Platz für wen auch immer.

Freitag, 20. Juni 2008

Raum dazwischen/ Janina Rohlik

Ein Text über Räume, Zwischenräume, Nicht-Räume, Tankstellen, Sprachen und Venedig.


Unterwegs nach Italien, nach Venedig.
Ab Anfang der letzten Maiwoche machen sich achtzehn Studentinnen und Studenten aus einer niedersächsischen Kleinstadt auf nach Norditalien./ Renaissance./ Kirchen./ Marien./ Die Flüge sind individuell gebucht und verdammt billig.//
Wir reisen per Anhalterin. Ich mag Dinge, die scheinbar nicht zusammenpassen wollen./ Würde ich fliegen käme ich mir gänzlich wie eine andere vor während dieser Tage.//

Eigenartiger Dämmer-Döse-Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen.
Das Auto fährt.
Neben der Autobahn türmen sich die grünen Bäume in langen Linien./ Radio; Werbung:
Was ist so breit wie meine Mama, so scharf wie meine Ex und so billig wie meine Witze?/
Ist ein Flachbildschirmfernseher.
- …
dämmere ganz gerne.//

Tankstelle./ Aussteigen/ Vielen Dank/ gute Fahrt noch/ Gepäck abstellen/ erstmal sitzen/ erstmal Toilette/ unter der Sperre durch ist Pinkeln umsonst/ erstmal Kaffee holen, ist und bleibt die größte Reiseinvestition/ erstmal rauchen./ Dann: weiter. Suchen/ fragen./ Zwischen weg und da an Orten, die überall sein könnten, weil sie überall gleich aussehen.//

Es ist schwül, der Himmel ist nicht himmelblau sondern ist blassblau bis blaugrau/ getrübt wie durch eine Milchglasscheibe denn der Wind bringt Wüstensand mit./ Sind Himmel manchmal ultramarinblau?/
Ultra mare/ = über dem Meer/ dort also vielleicht hängt das Ultramarinblau./ Wie gut lassen sich Farben pflücken?/ Himmelblass/ das Blau, das Ultra mare heißt/
Ist auch nicht leicht aus dem Kanalgewirr zu fischen/ dann, in Venedig/ Meer flutet bis zwischen die Häuser/ bringt ein Stück vom Ultra mare/ nicht viel/ reicht aber für die Mäntel der Madonnen/ die ganze Renaissance lang/ist doch schon mal was.//
Eine wunderschöne Sommernacht erwartet uns./…lauter Poesie aus dem Radio-Wetter-Bericht. Und diese Nacht können wir Poesie ganz gut gebrauchen.//

20.16 Uhr./
Wir fahren mit einem Österreicher nach Salzburg, dann geht der Weg weiter über Villach nach Venedig.
Ich war noch nie in Italien./
Plötzlich fahren wir den Bergen entgegen/ bleiche Schattenrisse in der Ferne/ Pappkulissen./
Bis Salzburg sind es noch 77 km.
Irgendwas an den Bergen ist schön./ schwierig Worte zu finden, dafür/ später ist auch an Venedig irgendwas schön./ Die Berge ziehen sich durch die Landschaft, sortieren alles, bilden Grenzen zwischen der einen und der anderen Seite. Können einsperren.//

Sind wir schon in Österreich?/
„So lange Sie noch Zwiebeltürme sehen, sind wir in Bayern.“/
Aber es gibt überhaupt keine Garantie:
So lange Sie hellen Sandstein, ornamentale Fensterbögen sehen, kleine Zinnen oben am Gebäuderand, sind wir im Orient.
- Wir sind aber in Venedig./
So lange Sie Paläste wie diesen sehen, mit einer Tür direkt zum Tempel, so lange sind wir bei König Salomo.
- Das ist aber nicht Salomos Palast, sondern der Dogenpalast. Das ist kein Tempel, das ist die Markuskirche./
Sind wir schon in Österreich?
Für mich hat das Andere schon begonnen, auch ohne überschrittene Grenze. Beginnt jeden Augenblick./
Was sind denn Grenzen?//
Später die gleiche Frage: Wo beginnt Venedig?/ Venedig heißen/ Venedig sein/ Was ist was?//

„Scusi…direzione Venezia?“/
Der erste Morgen in Italien:
Um 4.30 Uhr erwacht die Tankstelle; die LKWs lassen ihre Motoren an/ vor den bleichblauen Bergen: matte Sonnenscheibe, die neben dem Autogrill auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeht/ PKWs halten kurz vor unseren Füßen/ die sind noch in den Schlafsäcken//

5.00 Uhr./
Rossella kommt und beginnt im Autogrill direkt hinter unser Unmenegen von Croissants aufzubacken/ Tür bleibt zu/ noch kein Kaffee./ Wir rennen zum Aufwachen einmal um die Tankstelle//

Punkt 6 Uhr öffnet sich die Türe/ Entrata/ zu dem süß duftenden Backwerk und mit uns steht gleich eine ganze Reihe italienischer Arbeiter und LKW-Fahrer bei Rossella an der Theke/ für einen Kaffee/
Kaffee ist hier Espresso: sehr schwarz, sehr stark, sehr klein./ Fingerhutgroße Tassen, zur Hälfte gefüllt./ Und ich frage mich, ob sich im Charakter des Kaffees auch ein Stück Lebensart widerspiegelt oder umgekehrt: Ob der Kaffee die Einstellung zum Leben verändert?/ Dieser Kaffee hat etwas von einem Konzentrat./
Für alle ist es früh./ Alle: unterwegs zur Arbeit./ Aber die Stimmung ist gut/ wach/ (vielleicht macht das der Espresso)/ Bon giorno!/ aber keine Plätze haben die Autos für uns.//

Was heißt: „Fahren Sie nach…?“/ Gibt es hier in der Nähe einen Bahnhof und wo sind wir überhaupt genau? Nördlich oder südlich von Udine?/
Wir entschließen uns, die freundliche Rossella um Rat zu fragen. Rossella spricht auch Englisch. Sie ist teil dieses Zwischenraumes Tankstelle. Der Ort ist und Nicht-Ort, für uns kleiner norditalienischer Kosmos. Sie ist Teil des Raumes, der zwischen den Sprachen liegt, zwischen unserem unbeholfenen „scusi“ und dem schwungvollen Italienisch, das uns umgibt./
Rossella rät uns ein Taxi zu nehmen.//

Und plötzlich geht es ganz schnell und einfach: Ein Italiener mit großem ledergepolsterten Auto, madonnenmantelblaugetönter Sonnenbrille, Deutsch- und Englisch-Sprachkenntnissen, nimmt uns mit nach Venezia./ Radio:
Wir staunen über die rasante Geschwindigkeit dieser Sprache/
Empfang wird schlecht/ Rauschen/ klick/ aus/ klack/ ein/ CD: Eros Ramazotti./
Das erscheint mir etwas zu klischeehaft.//

Mittlerweile ist das Land wieder flach/ lassen die letzten Schattenrisse der Berge hinter uns./ Flach/ Felder, Wiesen, Wein/ Fabriken./ Im Norden Italiens ist die Industrie zuhause.//
Hinter der Madonnenbrille verbirgt sich ein Held unserer Zeit./ Kämpfer für Recht und Ordnung/ Schützer des Staates/ Mutig gegen die Mafia/ Position ermächtigt zur Personalienkontrolle/ Macht gegen Migration/
Das ist ein großes Problem in Italien./ Die Migration./ Die Rumänen, besonders./ Gehören jetzt ja auch zur EU./
Unsere Mitfahrgelegenheit ist Terrorbeauftragter am venezianischen Flughafen, zuständig für die Personenkontrolle./ Fast ist es also wie in der Renaissance geblieben./ Nur, dass weder Venedig, noch Italien Himmel ist für Ankommende./ Nur, dass die Pförtner heute selten Petrus heißen.//

8.00 Uhr morgens, Stadtrand, venezianisches Festland./
Stehe in dem kühl wirkenden Tankstellen-Café mit den roten Stühlen und den bunten Plastikblumen auf den Tischen./ Il Gazettino liegt auf einem der Tische/ Rissa tra studenti di sinistra e Forza Nuova – 4 feriti e 6 arresti dopo il raid „Sapienza“/ linke Studenten/ Schlägerei, Verletzte/ Festnahmen/ L’assembla degli studenti universitari dopo l’aggressione da parte di un gruppo di destra/ Rechte Studenten in Rom./

Vor einigen Tagen habe ich eine E-Mail bekommen: Pogrome gegen Roma in Norditalien/ daran denke ich. Und an/ die unglaubliche Greuel-Geschichte über eine junge Frau, angebliche „Zigeunerin“/ stahl angeblich ein Kind, ein italienisches, kein Zigeuner-Kind./
Die Menschen aus einem norditalienischen Dorf zünden die Hütten der dort lebenden Roma an./ Das ist nicht nur eine Geschichte./ Alles brennt nieder./
Nelle ex caserne i nuovi centri per gli immigranti/
Migration ist ein Problem in Italien. Sagt der Held mit der Madonnenbrille. Sagt Il Gazzettino, die Zeitung. Sagen die Zeitungen. Nicht nur in Italien, auch in Österreich, auch in Deutschland./
Was ist denn Migration? Was ist das Problem?
I kommt aus Chemnitz, ich aus Heilbronn. Ost und Süd und beide wohnen wir in Mitte/ Norden/ Binnenmigration.//

Ich denke an die Freunde, die ich im letzten Sommer in Rumänien gefunden habe./ J und C in Craiova/ hässliche, arme Industriestadt/ C’s Vater arbeitet, lebt/ Halbzeit/ in Italien: da gibt es Arbeit und deshalb Geld./ Transmigration/
Centri per gli immgranti clandestini//

13.00 Uhr./
Wir sitzen am Rande der Fabriken Porto Margheras./ „Es ist warm, es ist laut, es ist dreckig“, sagt I./
Außerdem ist Mittagspause oder Schichtwechsel. An der Frittenbude sind die Fritten aus und unsere Mägen bleiben leer, denn das Wort vegetarisch ist hier pure Exotik./
Zu Mittag soll es satt und kräftig machen. Es gibt Fleisch. Traditionelles mit Fast-Food-Einschlag oder Fast Food mit traditioneller Note. Dazu Bier./
Und dann Kaffee und Zigaretten, aber die gibt es sowieso für alle Pausen. Das ist hier nicht anders als irgendwo sonst/ Zwischenraum: Pause./ Kenne ich selbst./
Nur: Hier fühle ich mich: Allein unter Männern./
Sie sind alt und jung und zwischendrin. Sie tragen Sicherheitsschuhe an den Füßen und Handschuhe in den Hosentaschen und gelbe Helme am Gürtel./ I meint: „Diese Helme faszinieren mich irgendwie.“/ Manche tragen Blaumänner/ (sollten die in Venedig nicht lieber Blaumadonnen heißen?)/ andere nicht. Zwei fallen mir auf, weil sie Blaumänner tragen, die keine sind, denn sie sind weiß./
Weißmänner?//
Die Giftfabriken von Porto Marghera./
Wir laufen über das Industriegelände, Richtung Hafen, auf dem Rücken das Gepäck, im Nacken die schwüle Hitze, ab und zu ein Windhauch./ „Grüß Gott!“/ kommt unvermittelt aus einem Fabriktor/stehen bleiben/ sprechen/ zuhören/ wieder einer zwischen den Räumen/ arbeitet nicht hier/ transportiert nur, zwischen hier und Österreich/ Schöne Stadt Venezia, nicht?//

16.15 Uhr./
Venedig, Mestre, nahe der Piazzale Candiani. Nach dem Markt/
Nicht nur die Blätter und weißen Schneeblüten flattern über den Platz sondern auch Plastiktüten, Papier, verloren gegangene Einkaufszettel und Gedanken/
„Ob das die sind, die zu oft schwarz gefahren sind?“, fragt I, selbst schon zur Schwarzfahrerin in Venedig geworden, als ein Trupp von Stadtreinigern in neongelben Westen eintrifft und auf dem Platz ausschwärmt./ Keine Laubblasgeräte. Hier wird, ganz romantisch, mit Reisigbesen gefegt./ Wir picknicken italienische Köstlichkeiten und sehen uns eine Photoausstellung an./ 60er Jahre in Schwarz-Weiß. Es gibt ein paar Hinweistafeln aber nur auf Italienisch und so bleibt die Geschichte Mestres nebulös./ Soviel aber ist sichtbar: Kinder, Arbeiter, Kommunisten./
Auf der Piazzale Candiani fangen zwei Jugendliche an, Break Dance zu üben. Etwa eine Stunde lang fangen sie damit an. Machen Aufwärmübungen. Hören damit auf, reden. Sie trägt ein verwaschenes T-Shirt und eine weite Hose und lange Zöpfe und fasziniert mich. Ihr Telefon klingelt, er bekommt eine Zuschauerin, blond gelockt und rausgeputzt, die eine Weile dasteht und schaut und nicht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll und deplaziert aussieht. Und schließlich wieder geht. Jedenfalls kommen sie nicht wirklich zum Tanzen und überhaupt wirkt alles so ein bisschen schwierig und kompliziert./
Wir stehen im offenen Treppenhaus über der Piazzale und schauen den beiden zu. Und schauen und schauen und denken uns ihre Geschichte aus und sind ganz gefesselt./ Es dauert lange, bis wir uns auf den Weg zum Bus machen./ Jetzt kommt Venedig, die Insel.//

Hanna/neuer endgültiger Text/Juni'08

mein neuer text handelt von menschen in venedig im allgemeinen - er nimmt auch bezug auf meine markusplatz-mosaike und andere bilder, die ich ausstellen möchte


Menschen Venedigs - Einheimische vs. Touristen?

Venedig – das ist nicht nur das Wasser der Lagune, das die Pfahl- & Steinmasse zärtlich umspült. Eine eifersüchtige, zermürbende Zärtlichkeit, die dem Objekt seiner Begierde langsam den Boden unter den Füßen entzieht.
Venedig – das sind auch die Menschen: Menschen, die hier geboren sind, & andere, die später nach Venedig finden. Menschen, die hier leben, Menschen, die hier Urlaub machen, Menschen auf Stippvisite. Menschen, die geschäftlich hier sind: Business-Typen. Oder Künstler: Schriftsteller, Schauspieler, Maler & Musiker, die sich von ihrer Liebe zu dieser Stadt inspirieren lassen. Hier atmet Kultur aus jeder Mauer, von der der Putz langsam abbröckelt & die dadurch umso liebenswerter erscheint. Privilegierte Menschen, die eine neue Wahlheimat gefunden haben und einen Teil des Jahres, des Lebens hier verbringen dürfen.
Andere bleiben nur kurz & verlassen die Stadt mit Wehmut – Touristen.
Sie kommen mit dem Auto, dem Bus, dem Zug, dem Flugzeug oder über das Meer – in einer eigenen Yacht, einem Segelboot, oder per Kreuzfahrtschiff: Venedig als kurzfristige Station einer Reise, auf der sich die Eindrücke zu vieler Städte in zu schneller Abfolge miteinander kreuzen – das klingt nach Blasphemie, Verrat an der „Serenissima“, der allerdurchlauchtigsten aller Städte.
Italo Calvino sagte: „Jedesmal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig... Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muß ich von einer ersten Stadt ausgehen, die inbegriffen ist.“
Venedig als Ur-Stadt? Venedig als Pracht, an der sich, wenn man sie einmal erfahren hat, alle anderen Städte messen müssen. Eine undankbare Rolle für die meisten anderen Städte.
Eine Pracht, von der man aber auch Erholung braucht. Venedig ist zu schön um wahr zu sein & schmerzt gelegentlich.
Leidenschaft ist es, die viele Menschen nach Venedig zieht, & wenn man sie vorher nicht gefühlt hat, dann erfährt man sie hier.
So viele Menschen. Aus allen Ländern, von allen Kontinenten. Alle Alter, alle Hautfarben, alle Kombinationen: Allein-Reisende, Paare, Familien, Gruppen: Schulgruppen, Seniorengruppen, andere Gruppen.
Zu viele Menschen. Manchmal denke ich sie mir weg. Wünsche mir, diese Gasse, diesen Platz für mich alleine zu haben. Wünsche mir, diese Stadt zu kennen, wie meine Westentasche: jede Calle, jede Ponte, jeden Campo. Frage mich – wie wäre es, hier geboren zu sein?
Wie ist es, hier geboren zu sein? Die Eingeborenen sind auf der Straße schwer auszumachen. Aber diese alte Frau, die von einer andere Frau über die Brücken geführt wird – die wird doch hier geboren sein? Oder dieser alte Mann, den eine Frau durch die Gassen von Guidecca schiebt – der lebte schon immer hier, und wird hier auch sterben? Und diese beiden Männer, die sich in einer engen Gasse freundlich im Vorbeigehen grüßen und im Weitergehen die Neuigkeiten des Tages austauschen, die haben früher schon als Kinder zusammen auf dem Campo San Polo Fußball gespielt?
Der alte Mann, mit dem ich mich auf der Bootshaltestelle von San Erasmo unterhielt, erzählte mir: Ich war Gondoliere. Ja, ich bin hier geboren. Jetzt sind meine beiden Söhne auch Gondolieri.
Ein alter Berufsstand, den es nur in Venedig gibt. Neue Lizenzen werden nicht vergeben, erzählt ein Tourist vor der Seufzerbrücke seiner Frau, der Beruf wird weiter vererbt. Wo gibt es denn sowas noch? Wie kann man eine Stadt, die viele solcher Eigentümlichkeiten beherbergt, überhaupt mit anderen Städten vergleichen? Ich kann es nicht.
Die Einwohner schwinden, nicht jeder kann Gondoliere sein, und soviel andere Arbeit gibt es hier nicht. Genau so wenig sind alle, die hier arbeiten, Einheimische. Allen voran die Schwarzen, die in überfüllten Booten über das Meer nach Italien kamen, illegal, und nun aus Plastiksäcken heraus Plagiat-Handtaschen verkaufen, illegal. Aufgereiht stehen sie vor allem an der Riva degli Schiavoni, Uferpromenade zwischen Markusplatz & den Giardini, das billige Angebot ausgebreitet auf Plastikplanen, die bei Gefahr, schnell an allen vier Ecken genommen, zum Sack werden und die Hehlerware verbergen. Wenn der erste in der Reihe hört, dass Ordnungsbeamte nahen, packt die ganze Reihe eilig ein, flieht & sucht sich einen neuen Platz.
Wie fühlt sich einer, der in Venedig geboren ist & dann wegziehen muss? (Ein Luxusproblem? Venedig ist ein Luxus, auf den man nicht mehr verzichten kann ...) Schlimmstenfalls nach Mestre, der hässlichen Schwester der schönen Stadt, die gleich gegenüber am Festland liegt. Wo Industrieschornsteine statt Kirchtürme in den Himmel ragen & wo man in Mietskasernen lebt statt in Palazzi. So nah an Venedig, zum Greifen nah & doch weltenweit entfernt.
Wie fühlt man sich als Eingeborener Venedigs, wenn man in den Gassen der Stadt nur Fremden begegnet? Die wie eine Invasion vom Himmel fallen oder über das Meer kommen. Ein Heer, eine Streitmacht, die Anspüche auf Venedig erhebt: hier, ich habe diese Reise gekauft, & jetzt will ich auch ein Stück von Venedig haben. Aber wenn Tausende ein Stück wollen, und wenn es allen so gut schmeckt, dass sie ein zweites und drittes Stück nehmen, was bleibt dann noch übrig?
Reservate für Eingeborene, entlegene Stadtteile, Gassenzüge ohne Frari-Kirche oder Rialtobrücke, in denen Eingeborene Caffè trinken, & garantiert keinen Caffè Americano. Da sitzen sie an einer unspektakulären & dennoch schönen Fondamente, irgendwo in Cannaregio, kauen an ihren Fingernägeln, jenseits der Anderen, die durch ihre Objektive ein Motiv nach dem anderen erlegen.
Und wenn sie raus wollen aus ihrem Stadtteil? Bleibt ihnen die Linie 3, für Touristen verboten, die daran erinnert werden: die Stadt ist nicht ganz in euer Hand & unter euren Füßen.
Oder die, die hier Arbeit gefunden haben, schwere Wagen vor sich her schieben, über eine Brücke nach der anderen, schaffen sich durch energische Warnrufe einen Weg durch schlendernde Touristen.
Rolling Venice – eine Gesamtattraktion wie Venedig muss am Laufen gehalten werden. Alles was da ist, für Hotels, Geschäfte, Einheimische & Touristen, muss hierher gebracht & verteilt werden, ohne LKWs. Und so sieht man auf den Kanälen nicht nur schwarze Gondeln, die Touristen tragen, sondern ebenso viele Motor- & Lastboote. Die einen bringen eine neue Waschmachine, in einem anderen macht sich ein junges Paar auf zu einem Ausflug auf eine ruhigere Insel der Lagune, die Erholung verspricht von der Mutterinsel. Eine Löwenmutter, die die anderen Inseln schützend unter ihre Flügeln nimmt, & sie gleichzeitig von dem eigenen Glanz abschirmt. Eine prächtige Löwin, aber ohne feste Pranken, ohne Bodenhaftung, und auch die Schwingen sind nicht flugtauglich.
Tiere Venedigs – Kühe, Hühner, Schweine gibt es nur auf dem Teller. Löwen nur in Stein & Legenden. Pferde nicht mal in Standbildern. Tauben gibt es, unzählige, vor allem auf dem Markusplatz. Möwen gibt es, denn dies ist eine Stadt am Meer, wenn auch nur indirekt. Katzen gibt es nur wenige. Wenn, dann wurden sie systematisch kastriert oder auf anderen Inseln ausgesetzt. Hunde gibt es, überwiegend kleinere Rassen, aber keine Dackel, denn die können nicht gut Brücken steigen. Hunde, die Kot hinterlassen – vom verantwortungsvollen Halter im Plastikbeutel mitgenommen, vom wenigstens beschämten mit einem Stück Zeitung überdeckt und umso tückischer, wenn man ahnungslos drauf tritt. Ab der Dämmerung gibt es auch Fledermäuse, deren Schwingen & Schwirren man zwischen den eng zusammenstehenden Gebäuden vibrierend vernehmen kann, wie ich mir des öfteren einbildete.
Zurück zu den Menschen - Menschen Venedigs: Einheimische vs. Touristen? Es tun sich zwei Parallelwelten auf, habe ich gehört. Und man erfährt es auch, etwa wenn man zu einem gehobenen Preis einkauft, oder eben, wenn einem die Fahrt mit der Linie 3 verwehrt wird.
Venedigs Menschen – das sind nicht nur die Menschen von heute, die von morgen, die übermorgen wieder abreisen – das sind auch die Menschen von gestern. Ganz gestern, Menschen aus längst vergangenen Epochen. Menschen, die die Gemälde Canalettos bevölkern – Menschen mit anderem Erscheinungsbild, anderem Zeitgefühl, anderen Möglichkeiten.
Imaginierte Menschen: Don Juan oder Gustav von Aschenbach, der den Tod in Venedig fand.
„Menschen“, die nie in Venedig waren, aber omnipräsent sind: heilige Menschen, allen voran Maria & das Jesuskind, in den Gemälden Bellinis oder Tizians.
Dogen, die die Macht Venedigs verkörperten. Händler, die den Orient ins Abendland brachten. Weltreisende, die es aus Venedig raus trieb um es mit anderen Städten und Ländern zu vergleichen – Marco Polo. Adlige, die sich Paläste am Canal Grande bauten.
Und andere Namen, die ewig bleiben: Gabrieli, Monteverdi, Vivaldi – Menschen, die Venedig & all seine Pracht vertont haben – auch wer Venedig nie gesehen hat, kann seine Schönheit in einem Violinkonzert oder einer Oper dieser Meister nachempfinden.
Menschen Venedigs – Einheimische vs. Touristen? Nein, auf den Gassen & Kanälen Venedigs herrscht kein Krieg. Hier fliegen keine bösen Blicke wie Pfeile durch die Luft. Es ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander, mindestens ein Nebeneinander - man braucht sich.
Hier & da lächelt ein Venezianer einem Fremden müde hinterher, nicht verachtend, sondern bedauernd: ich lebe hier, doch du bist morgen wieder fort ... arme Seele ... doch nimm dir ruhig ein Stückchen meiner Stadt mit, denn ich kann all diese Pracht unmöglich allein (er)tragen.
Und überhaupt, das spürt hier auch der Ungläubige: was Gott gegeben hat, das soll man teilen.

Donnerstag, 19. Juni 2008

Mittwoch, 18. Juni 2008

Kein Ort zum bleiben / Endgültiger Text / Christiana

Kein Ort zum bleiben

Selbstgefällig ragt Venedig aus der weiten, ebenen Wasserlandschaft und präsentiert seine Pracht, als würde es aller Naturgewalt trotzen wollen. Reichgestaltete Paläste und Kirchen erzählen von einer großen Vergangenheit. Unwirkliche, morbide Kulisse in diesiger Melancholie der Lagune.

Der Archipel ist kein sicherer Boden. Das wussten bereits die ersten Siedler. Auf der Flucht vor den einfallenden Goten, fanden sie gerade deshalb in der Lagune Zuflucht. Das unwegsame Marschland war nur Einheimischen bekannt und zu unsicher für fremde Invasoren. Obwohl das Sumpfgebiet kein Ort für eine dauerhafte Besiedlung war, blieben die Flüchtenden.

Hüttenbau auf hohen Ufern, ein Meer von hundert Inseln, geschaffen durch die natürlichen Wasserläufe, die vom Festland zur Adria hervor drangen. Einige von ihnen bilden inmitten der Lagune zusammengeschweißt das Fundament des Stadtkerns. Durch ihn windet sich s-förmig der Canal Grande, die spätere Prestigestraße Venedigs. Vom ihm führen Kanäle zu den anderen Teilen der Stadt. Das Wasser bestimmte von Anfang an das Leben.

Man baute mit leichten Materialien, wie Holz und Ziegeln; man rammte Pfähle unter die tragenden Mauern in den Boden, um ihn belastbarer zu machen. Eine intelligente Statik, angepasst an den bewegten Untergrund, ermöglichte mehrstöckige Häuserbauten. Venedig wuchs mit seiner Bevölkerung. Venedig war attraktiv.

Von der Weltmacht zur Ohnmacht.

Zwischen Orient und Okzident gelangte die Stadt zur Weltmacht, betrieb Handel, füllte ihre Speicher und wurde reicher. Bis ihr diese Rolle von anderen abgenommen wurde. Doch was sie sich auf ihrem Grund erschaffen hatte, blieb ihr erhalten, über Kriege hinweg bis heute.

Bezaubernde Kulisse. Besucherüberschwemmung. Venedig begann sich selbst im Ausland zu handeln. Teil dieses Handels wurde der eigene Untergang. Die Schutzmacht des Wassers ist obsolet, stattdessen wird es zur eigenen Bedrohung.

Einst flüchtete man in die Lagune, nun flüchtet ihre Bevölkerung.

Die ganze Welt ist zu Besuch.

Was bleibt?

Anmerkung: Der Text ist noch nicht fertig...

180608/ Marion Starke/ Venedig Bedeutung

Venedig heißt für mich ein Stück Vergangenheit aufsaugen. Von kulturellen Streifzügen über Maler, Kurtisanen und Poeten. Von kulinarischen Streifzügen in Trattorien über das Leben und Lieben auf der Piazza. Von zahlreichen Bauwerken verschiedener Stilepochen, die steingewordene Zeugnisse der Stadtgeschichte sind. Von Glanz, Melancholie und Künstlichkeit in Geschichten, Gedichten und Berichten, die das Fluidum, der über den Wassern schwebenden Serenissima, zu mir trägt.


Venedig heißt für tausend gurrende Tauben auf den Zinnen der Paläste sitzen. Von Büste zu Büste fliegen, Tramezzini-Brotsamen zu picken, Fotografen zu erschrecken, Dreck auf dem Mamorboden verteilen, kreischenden Weibern entgegen zu flattern, im Gesims der Markuskirche nächtigen und sich auf den Köpfen der Löwen zu vermehren.

Dienstag, 17. Juni 2008

„Held Gottes“ - Erzengel Gabriel von Sina Bengsch

überarbeitete Version

„Held Gottes“ - Erzengel Gabriel

„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden.“ (Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 1, 26-38)

Die Verkündigungsszene ist nicht nur die älteste, sondern auch die beliebteste Darstellung der Engel in der christlichen Kunst. In Venedig ging die Verehrung der Mariä Verkündigung soweit, dass der Mythos geschaffen wurde, das Venedig am 25. März 421 n. Chr. gegründet wurde, dem Tag an dem das Ereignis der Mariä Verkündigung gefeiert wird.
Der Erzengel Gabriel ist der Engel der Verkündigung, er dient als Bote Gottes und verkündete dem Zacharias die Geburt des Johannes des Täufers und Maria die Geburt Jesu. Die genaue Übersetzung von Erzengel Gabriel lautet „Held Gottes“.
Er wird als schöner Jüngling mit kurzen, blonden Locken und leuchtenden Gewändern, die vermutlich sein Lichtwesen versinnbildlichen sollen, dargestellt. Seine rötlichen Wangen weisen darauf hin, dass man früher dachte, dass die Engel aus Licht und Feuer bestehen. Nicht selten wird er mit einer Lilie in der Hand abgebildet. Sie ist seit der Antike ein Symbol der Reinheit und der Schönheit, aber auch Symbol des Todes. Die Madonnen-Lilie, eine Unterart der Gattung der Lilien, bekam aufgrund ihrer strahlend weißen Farbe ihren Namen. Sie ist häufig auf Gemälden zu sehen, die das Thema der Verkündigung aufgreifen. In Tizians Kunstwerk die Verkündigung, das zwischen 1560-1565 für die Kirche San Salvador entstand, sucht der Betrachter jedoch vergeblich nach einer Lilie, alles was er entdecken kann, ist eine Kristallvase, die unterhalb der Maria steht, in der scheinbar die Blütenblätter in Flammen stehen. Unter der brennenden Pflanze steht eine Inschrift auf den Stufen: IGNIS ARDENS ET NON COMBURENS, ein brennendes Feuer, das doch nicht brennt.
Bei diesem Gemälde, das eine Größe von 403*235 cm misst, legt Tizian eine starke Betonung auf die Leuchtkraft von Licht und Farbe. Das Gewand vom Engel Gabriel besteht aus einem feinen, fließenden Stoff, der einen zarten Rosastich aufweist, darunter schimmert ein weißes Untergewand hervor. Der rechte Ärmel des rosa farbigen Gewands ist stark aufgebläht, so, dass an dieser Stelle, das weiße Untergewand zum Vorschein kommt. An den Beinen liegt das Gewand stark in Falten und scheint, wie der Ärmel, von einem Windstoß stark in Bewegung versetzt zu sein.
Ein Schal in Tizianrot, ist wie ein Gürtel, zweimal um seine Hüften geschlungen. Der gleiche Farbton des Schals taucht in den Sandalen des Engels wieder auf.
Tizian scheint seinen Pinselstrich allein für die Kraft der Bewegung einsetzen zu wollen. Diese Absicht von Tizian, lässt sich bei seiner Darstellung des Engel Gabriels erkennen. Der Engel befindet sich in einer nach vorn, zur Maria, strebenden Bewegung, dieser Eindruck entsteht durch die weit nach vorn gelehnte Position des Oberkörpers und den nach vorn gesetzten rechten Fuß. Der rechte weit gefiederte Flügel des Engels, der nach oben ausgerichtet ist, verstärkt diese Wahrnehmung. Die vor der Brust gekreuzten Arme und der linke Flügel, der nach unten zeigt, scheinen das Tempo des Engels abzubremsen.
Seine ganze Körperhaltung ist auf Maria fokussiert, mit Ausnahme seines Oberkörpers der sich leicht zum Betrachter, aus dem Geschehen hinaus, dreht. Sein Blick ist auf das Gesicht von Maria gerichtet, während Maria ihren Blick leicht senkt, wahrscheinlich will Tizian so, das Einverständnis von Maria zum göttlichen Plan, zeigen.

Verkündigung von Sina Bengsch

Maria und Erzengel Gabriel
Ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Darstellungen der Verkündigungsszene

Die Verkündigungsszene war in der Renaissance ein beliebtes Bildmotiv. Meistens waren Maria und Erzengel Gabriel gemeinsam zu sehen.
Ich werde im Folgenden drei Kunstwerke die die Verkündigungsszene aufzeigen auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersuchen. Die drei Künstler der Gemälde sind Tizian, Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese, diese Reihenfolge der Werke werde ich bei meinem Vergleich weitestgehend beibehalten.

Zuerst konzentriere ich mich auf die drei verschiedenen Darstellungsvarianten der Maria. Tizian kleidet seine Maria in leuchtenden Farben, rotes Kleid und blauer Mantel, der Stoff ist sehr glänzend und wirkt fein. Ihre rechten Zehen ragen unter dem Gewand hervor, der Fuß ist nur in einer Sandale gekleidet. Tintoretto stellt seine Maria in schlichteren Kleidern dar, der Stoff wirkt grob und schwer und die Farben sind matt. Sie trägt ebenfalls das für die Madonna typische rote Kleid, zu dem trägt sie einen grünen Unterrock (oder ähnliches) und über ihrem Schoß liegt eine orange farbige Decke, der blaue Mantel/Übergewand fehlt gänzlich. Auch bei dieser Maria ragen die Füße unter ihrem Gewand hervor, diese sind im Gegensatz zu Tizians Maria allerdings in geschlossenen, schlichten Schuhen dargestellt. Veroneses Maria trägt pompöse Kleider, der Stoff liegt stark in Falten und glänzt. Die rote Farbe des Kleides ändert sich bei dieser Ausführung und tendiert stark zu einem Rosa-Farbton. Der blaue Mantel wirkt sehr sperrig (massig) und ist auf der Innenseite mit grünem Stoff ausgekleidet.
Auf das weiße Kopftuch wird bei keiner der Mariendarstellung verzichtet, allerdings sind sie, zu der restlichen Kleidung passend, verschieden ausgeführt wurden. Ebenfalls fehlt bei keinem Gemälde das Buch, das mal auf ihrem Schoss, mal neben ihr aufgeschlagen liegt und zeigen soll, dass die Verkündigung des Erzengels Gabriel sie beim Lesen unterbrochen hat. Die unterschiedliche Darstellung der Hände in den drei Bildern ist besonders auffällig. Tizians Maria hält mit ihrer rechten Hand fast spielerisch das eine Ende des Kopftuches hoch, während die linke Hand das Buch umschließt und mit ihrem Zeigefinger zwischen den Buchseiten, die gerade gelesene Seite, offen hält. Tintoretto lässt die geöffneten Hände seiner Maria ausgestreckt zum rechten Bildrand zeigen, die so die Gegenbewegung zur Handbewegung des Erzengel Gabriels bilden. Nur die Maria von Veronese hält ihre Hände schützend vor ihren Körper, die rechte Hand ruht auf ihrer Brust und die linke verharrt auf Bauchhöhe, während sie den Mantel hält.
Ihr Gesichtsausdruck ist unterschiedlich in den Kunstwerken ausgeführt. Während der Betrachter Tizians Maria ernst, aber gefasst wahrnimmt, wirkt Tintorettos Maria sehr erschrocken und Veroneses Maria fast schon ängstlich.
Der Heiligenschein taucht in Tintorettos und Veroneses Gemälden auf, beide sind kreisförmig um den Kopf der Maria angeordnet, fallen im jeweiligen Vergleich des Scheins der sich um den heiligen Geist befindet eher dezent aus.

Komme ich nun zu der Darstellung des Erzengel Gabriels, er ist der Engel der Verkündigung und teilt Maria mit das sie den Sohn Gottes gebären wird.
Tizians Engel Gabriel ist in einem rosa farbigen Gewand gekleidet, an den Schultern ragen weiße Ärmel darunter hervor. Tintorettos Erzengel Gabriel trägt ein weißes, sehr feines Gewand, das sich sehr stark in Bewegung befindet. Der Erzengel Gabriel gemalt von Veronese ist die farbenfrohste Darstellung, er trägt ebenfalls wie Tizians Erzengel ein weißes Unterkleid, darüber befindet sich ein rosa/rotes Gewand und als Highlight, ist ihm noch eine grüne Schärpe um den Brustkorb gebunden. Der Erzengel Gabriel hat in allen drei Darstellungen blonde Locken und leicht gerötete Wangen.
In Tizians Kunstwerk betritt der Engel Gabriel von links das Bildgeschehen. Er hält seine Hände schützend vor seiner Brust gekreuzt. Sein Blick ist auf Maria gerichtet. Der Erzengel Gabriel gemalt von Tintoretto kommt durch die Tür geflogen und nimmt im Gegensatz zu den anderen beiden Darstellungen eine waagerechte Haltung ein, er befindet sich in einer Art Drehbewegung, so das dem Betrachter hauptsächlich sein Rücken zu gewand ist. Seine Hände sind ähnlich einer Tanzhaltung (-position) ausgestreckt. In der linken Hand hält er eine Lilie, die ein Symbol für Reinheit und Schönheit ist. Zwischen Maria und ihm gibt es direkten Blickkontakt. Bei Veronese scheint der Erzengel Gabriel im Raum zu schweben. Seine linke Hand hält, wie bei Tintoretto, eine Lilie, während die rechte nach oben ausgestreckt ist und der Zeigefinger zum Himmel deutet.
Die Flügel sind weitestgehend in allen drei Versionen gleich. Es tauchen die Farben rot, weiß und schwarz, allerdings in unterschiedlichen Anordnungen, in den Flügelflächen auf. Bei Tizians Erzengel Gabriel ist die Flügelspannweite am größten, es handelt sich ausgerechnet um die stehende Version des Erzengels, beim schwebenden und fliegenden Engel liegen die Flügel deutlich näher beieinander.
Der Mund, der bei den Verkündigungsszenen eine wichtige Rolle spielt, ist bei Tizians Ausführung des Erzengel Gabriels geschlossen, bei Tintoretto ist der Mund leicht geöffnet und bei Veronese ganz geöffnet.
Zum Schluss gehe ich auf die Darstellung des heiligen Geistes, den Raum und Anordnung der Personen ein.
Der heilige Geist nimmt in allen drei Gemälden die Gestalt einer Taube an, die nur ein Symbol des heiligen Geistes im Christentum ist. Die Taube scheint sich bei allen drei Ausführungen in einer Form des Sturzflugs zu befinden. Tizian und Veronese stellen den heiligen Geist als weiße Taube dar, die umgeben von Licht (Schein) ist. Bei Tintoretto geht der heiligen Schein direkt von der Taube (heilige Geist) aus und weist eine Kreisform auf.
Während Tizian und Veronese ihre Szenen eindeutig in einer Palastumgebung ansiedeln, was deutlich wird durch die hohen Säulen und die ausstaffierten Räume, gestaltet Tintoretto seine Räumlichkeiten ärmlich und demoliert, allerdings taucht bei diesem Kunstwerk die für Venedig typische Kassettendecke auf.

Eine Engelsschar taucht sowohl bei Tizian, als auch bei Tintoretto auf und sind in der oberen Bildhälfte angesiedelt. In Tintorettos Gemälde folgen die Engel stromartig dem heiligen Geist von der linken Seite ins Bildgeschehen, direkt auf die Maria zu. Von den Engeln sind hauptsächlich die Rücken mit ihren dunklen Flügeln und hellen Haarschopfe zu bewundern.
Tizian stellt seine Engel dem heiligen Geist rechts und links zur Seite. Der Betrachter kann deutlich die unterschiedlichen Gemütszustände der Engel in Bezug auf die Verkündigung des Erzengel Gabriels wahrnehmen, sie reichen von erstaunt, erschrocken bis zu wütend, interessiert. Ein Engel reckt seine Hände betend zum Himmel empor.

Tintoretto ist der einzige der drei Künstler, der auch Josef in sein Gemälde mit aufnimmt. Er siedelt ihn in der linken Bildhälfte, in seiner Werkstatt an, und zeigt ihn etwas versteckt von seinem Werkzeug bei seiner Arbeit, dem Tischlern.

Textentwurf/Jennifer Fandrich

Hier die überarbeitete Version, leider immer noch nicht ganz so fertig...




Tor-ohne-Schuss-aber-mit-geheim-Panik oder Man reist ja nicht, um anzukommen.
Den richtigen, den persönlichen Zugang zu einer Stadt finden: Wie?
Schreiben, Soundscapes, Skizzen und Wirklichkeit mit Fotos abbilden.
Versuche.

Durch die Gassen laufen, Brücken überqueren, Bilder betrachten und beschreiben, auf Plätzen stehen und versuchen, ein GEHEIMES TOR zu finden, das einen in die Stadt bringt, die alle Geheimnisse nur für einen persönlich bereithält.

Wir laufen auf Steinen, stone by stone, Millionen. Damit wir nicht im Schlick, im stinkenden Morast versinken, wurden Lärchen, Erlen, Ulmen, Eichen, Kiefern mit der Spitze voraus in den Boden gerammt. Wie hält das? Immer wieder die gleiche Frage. Luftleerer Raum versteinert das Holz, das Holz wird zu Stein, der die Stadt trägt. Noch.

Wir gehen über Brücken, die die Gassen zusammenhalten und verbinden, gehen geschwungen über Wasser, das angeblich einen eigenartigen Geruch hat und schmutzig ist. Den Geruch erahne ich nur nachts, wenn das Wasser still steht und der Touristen- und Venezianer Verkehr auf Booten und Gondeln ruht.

Wir betrachten Bilder, wir versuchen sie zu be- und umschreiben. Kein Tizian, kein Tintoretto, kein Carpaccio und auch kein Bellini ist vor uns sicher.

Campo S.Polo, Piazza S. Marco, Campo S.Margherita, Piazzale Roma.
Aber WO IST DAS TOR?

„Fährt man aber den Canal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein.“ sagt Georg Simmel.
…..

Man reist ja nicht, um anzukommen.

Venedig mit hinüberretten nach Hildesheim. Etwas mitnehmen von dem Mythos lautet die Maxime. Einen Text schreiben, der den persönlichen Zugang schafft und gleichzeitig einen kunstwissenschaftlichen Kontext hat. Viele Ideen, einige Ansätze, weniger Umsetzungen.

Aus Erinnerung heraus schreiben, aus Erinnerung und Vergegenwärtigung heraus einen Ansatz finden, erinnernd das geheime Tor finden. Re: scrivere und Re: zurück. Mit dem Vergangenen konfrontieren und dadurch die Gegenwart aktualisieren.

Mir stellt sich die Frage: Wie haben das die Künstler gemacht, die einen kurzen Aufenthalt in Venedig hatten und dann, zurück in der Heimat, Skizzen vervollständigt, Aquarelle in Ölgemälde umgesetzt haben? Welche Rolle spielen Erinnerungen, Bildgedächtnis, Idealbilder?

Mir fallen viele ein: Turner, Monet u.v.m., die ganzen großen europäischen Künstler des 19. Jahrhunderts, die in Venedig waren, sich inspirieren ließen, nicht abbilden wollten und schließlich doch die Stadt ständig reproduzierten. Statt ein Urteil über die Stadt abzugeben, beschrieben und analysierten sie erste Eindrücke. Die Stadt war nie ganz wirklich.

Joseph Mallord William Turner war drei Mal in Venedig: 1819, 1835 und 1840 war dann seiner letzter Aufenthalt. Es bleibt offen, ob die Stadt für ihn reine Schönheit repräsentierte, wie es der Großteil seiner Bilder andeuten, oder auch als Symbol für Verfall gesehen wird, wie es das Zitat zu seinem Gemälde „The Sun of Venice going to Sea“ andeutet:
„Hell scheint der Morgen, sanfte Lüfte wehn,
Venedigs Fischer heiter spannt sein buntes Segel heute,
Und achtet nicht des Dämons, der in grimm`ger Ruhe,
Schon auf der Lauer steht, nach des Abends Beute.“
Die Bedeutung des Bildes offenbart sich schnell: Die Besatzung des Fischerboots „Sun of Venice“ segelt frohen Mutes aufs Meer hinaus und ahnt noch nicht, dass es abends untergehen wird. Diese Thematik entspricht natürlich der Venedig-Thematik des Unterganges, die ruhmreiche und glanzvolle Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Einige Aquarelle schuf Turner, noch ehe er Venedig 1819 das erste Mal besuchte. Ein vorab gemachter erster Eindruck. Eine Illusion. Er nutzt Erinnerungen, die nicht die seinen sind, es sind Bilder aus dem großen Bild-Gedächtnis, das es über Venedig schon seit Jahrhunderten gibt. Der erste Aufenthalt soll maximal fünf Tage gedauert haben, entspricht etwas unserem Studienfahrtsaufenthalt, da erscheint die Produktion von 125 Bleistiftskizzen und 4 Aquarellen schon sehr umfangreich. Er zeichnete Konturen, er vermied die genaue Beschreibung der Form eines Objekts. Die Bilder wirken schwerelos, sind nicht greifbar. Sie bilden viel ab, nur keine Wirklichkeit. Sie zeigen Umrisse, deuten Farben an, zeigen den schnellen Pinselstrich.

Turners Zeitgenossen nehmen zu Anfang des 19.Jahrhunderts Anstoß an seiner ungewohnten Malweise, sie kritisieren seinen freien Umgang mit formalen Mitteln, seine freie Abbildungweise.
Als Turners größter Verteidiger trat dann John Ruskin auf die Bühne, der schon als 17jähriger Turners Werke emphatisch verteidigte und später mit seinem Werk „Modern Painters“, das 1843-1846 veröffentlich wurde, in einer Hymne auf die Schönheit und Kraft der Natur sowie auf die Stimmungen in Turners Werk Turner verteidigte und interpretierte. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Venedig 1841 dachte er ständig an seinen Modern Painter, er begann sich mit Turner Sehweise zu identifizieren:
„Im Zwielicht schob sich eine schwere Gewitterwolke über den Dogenpalast, und endlose Blitze, noch ohne Donner, zuckten hinter seinem First auf, wie Feuerwerksraketen aus dem Rauch über St.Angelo in den Himmel schießend, um über dem Lido niederzugehen; dabei erhellten sie die edle Gruppe der Salute und tauchten sie in bläuliches Spektralweiß; jeder Blitz berührte sie mit schwebender, geheimnisvoller Anmut – wie sie Turners Werken eigen ist: und hoben die Umrisse der Kuppel dunkel gegen den von Blitzen erhellten Himmel ab.“
Das Zitat könnte in Anlehnung an Turners „Gewitter auf der Piazetta“entstanden sein. In späteren Jahren, als Ruskin mit der Arbeit an seinem Buch „Stones of Venice“ begann, wandte sich Ruskin anderen Themen zu und Turners Bilder „waren gar nur noch angenehme Ablenkung“.
……….

Zurück zu der Frage nach der Erinnerung in Turners Bildern: Einige seiner Werke entsprechen seiner Vorstellungskraft, seiner Idealansicht von Venedig und seinem Stimmungsgehalt, sie sind nicht direkt vor dem Motiv entstanden. Beispielsweise gibt sein „Blick von der Giudecca nach Osten am frühen Morgen(?), 1819“ einige Rätsel auf: Die Topografie findet sich weder in Venedig noch in der Lagune, der hohe Turm könnte der Campanile von San Marco sein, während der Umriss der Bauten vor dem Horizont auf das Ufer der Bucht von der Piazetta bis zur Kirche Santa Elena hinweist, doch selbst dann stimmen viele architektonische Details nicht. Es lässt sich annehmen, dass Turner einen Sonnenaufgang malte und dann seine idealisierte, kompakte Venedig-Ansicht aus dem Gedächtnis hinzufügte.
Es ist nicht mehr die reine Abbildung der Stadt, die Canaletto, Venedigs bekanntester Vedutenmaler, anstrebte. Turner malt aus Erinnerungen, aus eigenen und aus dem großen Pool des Bildgedächtnisses Venedigs; er benutzt im Kopf entstandene Idealbilder, geprägt, von dem, was er sieht und seinem Wunschbild der Stadt.

DA IST DAS TOR, endlich, ich habe es gefunden: es ist Turners Blick auf die Stadt in seinen Aquarellen: Konturen auf Farbflächen, kein Gewicht, Formen, die zerfließen, die sich abschotten, die Stadt nicht greifbar machen. Es gibt kein vollständiges Bild mit allen Details, es sind Facetten, erste Eindrücke, immer wieder bestätigt. Licht und Luftbewegungen sind exakt.

Skizzen sind unvollständig, Gondeln werden wieder übermalt, sind aber trotzdem noch zu erkennen unter einer blaulila-Wasserfarbschicht. Ja, das ist Venedig für mich: Es vergeht und zerfließt, es zerfällt und gleichzeitig ist es ohne Zeit, auch zeitlos, ist immer da und wird nie neu. Nur die Sicht der Menschen verändert sich, die Stadt bleibt bis auf abbröckelnden Putz und mit Hochwasser vollaufende Erdgeschosse immer gleich.

Unvollständige Bilder sind das Bildwerk Turners über Venedig, unvollständige Skizzen sind meine Erinnerungen an Venedig.

Montag, 16. Juni 2008

160608/ Marion Starke/ 1000 Füße auf dem Markusplatz

Ich habe mehrere Baustellen. Hier ein Touristen-Text, den ich momentan noch überarbeite. Ich überlege eine andere Erzählperspektive einzubringen.

Millionen Füße auf dem Markusplatz

Millionen Schuhsohlen reiben die Pflastersteine blank. Millionen Hände schmirgeln den Marmor der zwei Säulen auf der Piazzetta dei Leoncini glatt. Was mögen sie denken, in jenem magischen Moment, an dem sie zum ersten Mal ihren Fuß auf den Platz setzen? Geht es ihnen wie dem Schriftsteller Julien Green, der befürchtete seinen Verstand zu verlieren? Oder versuchen sie sich in Ironie zu retten wie Goethe auf dem Campanile über Taschenkrebse räsonierte oder Hemingway, der im Dom ein Hollywoodkino sah?

In den Kanälen spiegeln die Facetten dicht gedrängter Fassaden - klein, verwinkelt, versteckt. Die Plätze schaffen in der Enge wieder Weite. Doch sie alle verblassen im Angesicht DER Piazza. Wo er ist, ist der Herzschlag Venedigs. Dieser Ort, an dem Sissi verschmäht und Mussolini bejubelt wurde. Seit dem 12. Jahrhundert in seinen Ausmaßen unverändert. Nur ein Schritt und schon steht man in einem Gemälde von Veronese oder Carpaccio. Ein begehbares Wunder. Wann kann man schon mal ein Gemälde betreten?

In den von der Gotik bis zur Renaissance umrahmten Schaufenstern thronen auf samtenen Dekolleltés diamantene Goldketten, wie die Terrassen auf den Dächern Venedigs. 32 Souvenirhändler mit Plastikgondeln, 8 Markusplatzfotografen mitsamt rollendem Computerstudio, 16 Markusplatzmaler, die ihre Staffeleien unentwegt neu vor dem immer gleichen Motiv arrangieren ohne dabei verrückt zu werden, 20 Muranoglasschlepper und eine Hand voll amtlich zugelassene Taubenfutterverkäufer. Sie verbrauchen den Charme der Goldmiene. Sie besetzen Markus.

Durch Venedig wie durch ein Museum führt einen eine Frau Mitte 40 mit rot-weißem Schirm von den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei zu bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Ein Ausflug der Touristen in die blattgoldene Ewigkeit der Markuskirche. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht und ihre Bedeutung verloren haben. Sind Glaube und Kunstgenuss zu vereinbaren?

In der Siesta, wenn die Schatten länger werden, versuchen Hobbyknipser das Zusammenspiel von Licht, Luft, Wolken und Wasser einzufangen. Die Sonne steht im Westen und lässt die Goldmosaiken der Markuskirche glitzern. Jenen Bruchteil einer Sekunde lang, in dem sich die Linse öffnet, mit nach Hause nehmen. Gibt es das digitale Glück?

Das Wasser drückt dich durch den steinernen Fisch in die Schleifspuren der Touristen. Bis zum Campanile glänzt das Pflaster feucht, wie vom Blut getränkt, das einst den Mamor vor dem höchsten Bauwerk Venedigs verfärbte als ein argentinischer Tänzer in die Tiefe stürzte. Es war 12 Uhr, die Glocken läuteten, er breitete die Arme aus und fiel wie ein Engel hinab.

In der Basilica wachen 25 Monsignores über die in Goldrausch verfallenen Menschenströme. Mehr oder weniger andächtige Augen saugen zwischen ~500 antiken Säulen 4.240 m² Mosaik in Kanzel und Kuppel auf. Spüren sie die Gegenwart der Gebeine des Evangelisten?

Auf der Terrasse des Caffé Quadri sitzt eine junge Japanerin mit Skizzenbuch und zeichnet Umberto, der hier seit 25 Jahren arbeitet und wie ein Zirkusdiregent 18,- Euro teuren Cappucino rechts und links durch die Tischreihen balanciert. Auch das Geld fliesst in Venedig. Die meisten Besucher fahren im 6er-Pack, eine Stunde mit "O sole mio!" jodelndem Gondoliere - ein bisschen Canale Grande, kleine Wasserstraßen, knipsen, winken, filmen. Ca d' Oro, Dogenpalastes, Campanile, San Marco, Tauben auf den Köpfen der Heiligen füttern, Abfahrt zur nächsten italienischen Stadt. Es fliessen die Grenzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Stehen wir inmitten einer Theaterkulisse oder ist das Wirklichkeit?

Graue Federkugeln sitzen im Gesims der Arkaden. Über den Platz wehen so viele Federn, als hätten die Dogen eine Kissenschlacht inszeniert.
Der abendlich erleuchtete Markusplatz glitzert wie eine Bühne. Einige Touristen wagen Walzerschritte zur Musik des Cafés Florian. Hermann Hesse beschrieb Venedig wie ein mildes, warmes Lied, wie die Verheissung einer Liebesnacht, wie ein tiefer Klang voll schwelgerischer Schönheit und leiser, zart genossener Melancholie. Der Mond schwebt über den Kuppeln der Markuskirche wie ein Zeichen des Orients. Der „schönste Festsaal Europas“, wie Napoleon ihn taufte, angefüllt mit Pfützen poetischer Ergriffenheit. Herrscht er noch heute über die Stadt?

Sonntag, 15. Juni 2008

150608/Marion Starke/Aqua de Venezia


Aqua de Venezia

Weich küsst die Lagune
der weiße Mond.

Venezia ruht.
Das Wasser schimmert.
Ihr Schatten flimmert
in seiner Flut.

Im Algenmeer ein Flüstern wohnt.
Serenissimas Gesang.
Ihr Schleier seicht erklang
im Himmel trohnt.

Textentwurf zu Bildern Carpaccios/ Juliane Link

der Kenntnisreiche:

Wir befinden uns hier in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, Gildehaus der Laienbruderschaft der Dalmatiner, gegründet 1451. Das Gebäude stammt aus dem 16. Jahrhundert.

die Dame:

Mittags, wenn die Sonne zu Stechen beginnt, in den Gassen wechselt gleißendes Licht mit harten Schatten, besuche ich sie, deine Gestalten im Halbdunkel der Scuola. Sie sind mir vertraut, ich kenne ihre Gesichter, ihre Gesten, könnte blind den Faltenwurf ihrer Gewänder nachzeichnen oder die Form ihrer Schatten. Links von mir der Drache, der sich vor Schmerz aufbäumt, vorn Musik und Getümmel über der Holzvertäfelung, rechts fliehen Mönche Richtung Bildrand. Ich bin müde, setzte mich auf eine der Bänke aus dunklem Holz, stütze den Kopf auf die rechte Hand, schließe die Augen. Als ich erwache sitzt du neben mir und zeichnest, später finde ich meine Züge wieder in Ursulas Gesicht, so also sehe ich aus mit geschlossenen Augen. Ursula liegt regungslos, die Decke bis unters Kinn gezogen, so ordentlich schlafe ich nicht, so gerade. Du träumst auch nicht von Engeln, sagst du. Wie Ursula schlafen nur Tote und Heilige.

der Kenntnisreiche:

Im Untergeschoß ist der Gemäldezyklus vollzählig erhalten, den Vittore Carpaccio in den Jahren 1502 bis 1507 für die Scuola gemalt hat. Sehr bedeutend für die venezianische Kunst, für die Kunstgeschichte überhaupt. Sie werden sehen.

die Dame:

Ich suche nach einer Jahreszahl, ich habe Zahlen nie leiden können, hatte immer Schwierigkeiten sie mir zu merken, jetzt brauche ich sie, um die inneren Bilder zu ordnen, ich hänge meine Erinnerungen an ihnen auf, wie Wäschestücke an einer Schnur, zwischen zwei Häuserwände gespannt, der Wind fährt hindurch, kühlt mir für einen Moment das Gesicht. Es ist schwül, die Luft schwer von Feuchtigkeit, die Wäsche trocknet langsam, wie die erste Farbschicht auf deiner Leinwand. Ich habe sie wahllos in eine Reihenfolge gebracht, die abgetragenen Stoffe, zwischen ihnen klaffen Lücken im Erinnerungsgewebe, Leerstellen, die mir die Dinge isolieren, hätte ich die Zahlen nicht, die Zeitschnur, die Verbindungslinie.

1502. Es war 1502, kurz nach der Jahrhundertwende, in der Stadt, die noch immer laut und fröhlich ist, mir zu bunt, zu leutselig, in der Stadt ein seltsames Vibrieren, es liegt etwas in der Luft, sagst du. Vielleicht wieder die Pest, sage ich.

der Kenntnisreiche:

Zu Ihrer Linken sehen Sie die an der Legenda aurea orientierte Geschichte des Heiligen Georgs mit dem Drachen, in drei Phasen und drei Leinwandbilder unterteilt. Der Heilige Georg, Drachentöter und Märtyrer, wird in der Ostkirche besonders verehrt.

die Dame:

1502 also bekamst du den Auftrag. Dein zweiter großer Auftrag, nach der Heiligen Ursula. Sie bringt dir Glück, sage ich. Du bringst mir Glück, sagst du.

der Kenntnisreiche:

Als Heiligenattribute dienen ihm eine Lanze und manchmal Palmen. Als Schutzheiliger hilft Georg gegen die Pest, sorgt für gutes Wetter und beschützt das Byzantinische Reich.

die Dame:

Nach Ursula jetzt also der Heilige Georg. Ein gutes Motiv sagst du, ein Spannungsmoment, eine Geschichte. Das ist dir lieber als die stillen Anbetungsszenen der Sacra Conversazione, in denen die Figuren doch schweigen müssen, in denen du das Heilige malen sollst, nicht aber das Gespräch. Ganz anders beim Heiligen Georg, dem Ritter, der auszog, um Silena von einem Untier zu befreien, einem Drachen, der die Stadt tyrannisierte: er verpestete die Luft mit seinem Feueratem, verschlang zweimal täglich ein Schaf, forderte bald Menschenopfer, die Prinzessin zuerst. In deinen Bildern wirst du die Geschichte verdichten, die wenigen Momente herausfiltern, die alles entscheiden, Schlüsselszenen mit dem Pinsel erzählen.

der Kenntnisreiche:

Der christliche Drache ist der Widersacher Gottes, er verkörpert das Prinzip des Dunklen, Ungeheuren, Bedrohlichen und Bösen. In der biblischen Apokalypse bezwingt der Erzengel Michael einen feuerroten, siebenköpfigen Drachen, im Drachenkämpfer Georg findet der Heilige Michael sein Ebenbild auf Erden. Den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen, das ist die Aufgabe des Ritters in der mittelalterlichen Ideologie. Wer zum Ritter geschlagen wird, der muss seinen Drachen suchen und überwinden.

die Dame:

Der Drache fletscht die Zähne, länglicher Kiefer, lückenlose Zahnreihe, hundert winzige, osmanische Dolche im Maul, zieht durch die Nasenlöcher Luft ein, reißt den Rachen auf. Das Pferd, nur einen halben Meter entfernt, schirrt aus, bäumt sich auf, die Vorderhufe erhoben, der Kopf geneigt, schon halbabgewandt zur Flucht, dann aber Georg, entschlossener Blick, wehendes Haar, Georg aufrecht im Sattel, die Rüstung, ein schwarzer Panzer, glänzt im Sonnenlicht, Georg, den Kopf nach vorn gebeugt, sieht der Gefahr ins Gesicht, unerschrocken, furchtlos, stürmisch, sticht zu, durchbohrt den Schädel des Untiers mit seiner Lanze, ihre Spitze bricht am Hinterkopf des Drachens hervor, mit solcher Wucht hat Georg zugestoßen. Der Drache verdreht die Augen, die Pupillen rutschen nach oben, aus seinem Maul fließt Blut, die Ohren erschlaffen, die Flügel noch vor Anspannung gespreizt, erstarren, an den Hinterbeinen stellen sich die Haare senkrecht, der Schwanz windet sich im Schmerz, der Kampf ist entschieden.

der Kenntnisreiche:

Der Heilige Georg war Soldat. Er wurde von den Venezianern besonders verehrt, seitdem sie in langjährige Konflikte mit den Türken gerieten. Die Türken bedrohten die Vormachtstellung Venedigs im Mittelmeerraum. Denn sie waren im Laufe des 15. Jahrhunderts immer weiter in venezianisches Territorium vorgedrungen und hatten 1453 Konstantinopel erobert. Der Drache also auch als Sinnbild für das türkische „Monster“, der christliche Ritter für die Streitmacht Venedigs.

die Dame:

Übrigens finde ich sie noch immer widerlich, die Leichenteile, die du über das Schlachtfeld verstreut hast, mir graut es vor deiner Genauigkeit. Totenköpfe, mit halbgeöffnetem Mund, manchmal höre ich sie leise röcheln, ein Gerippe, das die Arme vor der Brust verschränkt, zerfetzte Körper, klaffende Wunden, freigelegte Muskeln, ein angefaulter Fuß, die Haut fahl, an den Rändern gräulich, daneben ein Schädel der aus dem Lehmboden wuchert, ein totes Mädchen mit verstümmeltem Unterleib, Fingerknochen in die Erde verkrallt, dazwischen Echsen, Kröten, Schlangen mit verknoteten Körpern, feuchte, schwarz-grüne Tiere, in deiner Werkstatt kriechen sie lautlos über den Marmorboden, abends riechen deine Hände nach Fäulnis, nach verdorbenem Fisch.

der Kenntnisreiche:

Carpaccios Drache ist nicht schrecklich in seiner Erscheinung, umso schrecklicher aber ist sein Regime, sind die Überreste seines Wütens.

die Dame:

Wie findest du es, fragst du, als das Bild fertig ist, erwartest Bewunderung für deine anatomischen Kenntnisse, die perspektivischen Verkürzungen, die Anschaulichkeit deiner Toten, furchtbar, sage ich, abscheulich.

der Kenntnisreiche:

Nun zum Hl. Hieronymus, der 347 in Dalmatien geboren wurde und zu den vier spätantiken Kirchenlehrern des Westens zählt. Auf der rechten Längswand im Untergeschoß der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni sind ihm drei Gemälde gewidmet, ebenfalls Werke Vittore Carpaccios.

die Dame

Wenn ich genug habe vom Drachentöten, drehe ich mich um, wende mich dem Heiligen Hieronymus zu, der dich faszinierte wie kein anderer. Abends sitzt du über seinen Schriften, manchmal liest du mir einen Satz vor, prüfst seinen Klang, sein Gewicht, ich verstehe nur einzelne Worte, mein Latein reicht nicht aus.

der Kenntnisreiche:

Er war Gelehrter und Theologe und übersetzte die Bibel in das gesprochene Latein seiner Zeit. Er pflegte zu sagen:

Hl. Hieronymus:

Sei mir gnädig, Herr, weil ich Dalmatiner bin.

die Dame:

Gemalt hast du ihn bärtig, in hohem Alter wie mir scheint, auf einen Stab gestützt trotzdem aufrecht, sein Körper die einzige Horizontale im Vordergrund, ein Ruhepol, zu dem ich zurückkehre, wann immer ich den Blick schweifen lasse, die Gedanken.

der Kenntnisreiche:

Der Legende nach soll er einen Löwen von seiner Qual befreit haben, indem er ihm einen Dorn aus der Pranke zog. Dieser wurde darauf zahm und ihm ein treu ergebener Gefährte.

die Dame:

In dieser Stadt überall Löwen, steinern, vergoldet, geflügelt. Venedigs Wappentiere immer mit stolzgeschwellter Brust, ganz wie die Männer der Serenissima. Dein Löwe an der Seite des Hieronymus dagegen so wenig überheblich, verzichtet auf Gebrüll, er vertreibt mich nicht.

Samstag, 14. Juni 2008

postvenedig/ endgültiger text/ svenja wolff/ das zeitlose suchen

Neue Fassung, Montag, 23.6.


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Das Zeitlose suchen


Zwischen Geschichte und Gegenwart liegt die Stadt. Ist ganz Venedig ein Museum?
Was machen die Bilder mit uns? Was machen wir mit den Bildern? Wäre irgendetwas denkbar ohne Kunst? Wäre irgendetwas denkbar ohne Geschichte?


Vom Ufer der Riva, vom Dogenpalast aus, blickt man über das grüngraue Wasser der Lagune auf die strahlend weiße Kirche San Giorgio Maggiore. Istrischer Marmor. Kolossal steht sie da, in ihrer konsequenten Symmetrie, die Handschrift Andrea Palladios deutlich lesbar.
In ihr vereint, das Zitat zweier antiker Tempelfronten, übereinander gesetzt und zu einer Fassade verschmolzen. Massive Säulen treten aus ihr hervor, Giebel zeichnen sich ab.
Gekrönt von fünf Statuen, mit Zahnfries und korinthischen Kapitellen versehen, ist sie verziert und dennoch in ihrer Struktur ganz klar und deutlich.

In Venedig ist das Vergangene die Gegenwart. Man ist umgeben von jahrhundertealten Steinen, Gemäuern, Gebäuden, wird eingehüllt von der Geschichte, in Form von unzähligen Gemälden, verzierten Fassaden, Säulen, Reliefs, architektonischen Meisterwerken. Alles aus längst vergangener Zeit, und nicht nur im Fall Palladios, sich sogar damals schon auf Vergangenes beziehend.

Andrea Palladio. Einer der bedeutendsten Architekten der Vergangenheit. Und der Gegenwart? Zu seinen Lebzeiten und über sie hinaus war er es. Die Gunst der Renaissance - dem Lebenswandel zum Weltlichen im 16. Jahrhundert - hat er es zu verdanken, dass seine Villen auf dem Festland sich äußerster Beliebtheit freuten, und ihm schließlich auch Aufträge in der edlen, mächtigen Stadt einbrachten. Wie besessen erforschte und zeichnete er alte, römische Tempel und las die Schriften Vitruvs, um die Essenz der antiken Baukunst herauszufiltern und die seinige mit ihr anzufüllen.

Was erzählt sie heute, die alte San Giorgio? Was erzählt sie den Menschen, die mit dem Vaporetto übersetzen um zu ihr zu gelangen, sich ihr langsam übers Wasser nähern, bis sie vor ihr stehen, auf warmem glattem Stein. Sind sie beeindruckt von ihrem Konstrukt? Von ihrer Massivität? Oder lockt sie nur der Glockenturm alias Aussichtsturm? Wissen sie etwas vom Architekten und seiner Zeit? Wollen sie es wissen?
Wie beeindruckt sie ein alter Sakralbau, wenn es doch so viele gibt? Höher, schneller, weiter, präziser sind die Errungenschaften der Gegenwart allemal, möchte man meinen. Wo berührt das Vergangene die Gegenwart?


Während Palladio mit dem Bau seiner San Giorgio beschäftigt war, erschuf in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein anderer Meister, mit Namen Paolo Veronese, ein ähnlich kolossales Werk - das Gastmahl im Hause des Levi, 5,6 x 13,09 Meter, Öl auf Leinwand.
Das Bild wird dominiert von drei riesigen, zierreich gemalten Arkadenbögen, unter denen sich eine wilde Szene abspielt - ursprünglich das Abendmahl, bei Veronese aber zu festlichem Chaos umgestaltet.

Die Dinge wiederholen sich. Die Motive der Gemälde werden immer wieder aufgegriffen, meist sind sie der Bibel oder antiker Mythologie entlehnt. Verkündigungsszenen. Kreuzigungsszenen. Heiligendarstellungen. Heiligenzyklen. Madonnen. Pietà. Sacra Conversazione, Abendmähler, Gastmähler.
Die Architekten taten es nicht anders, als sie anfingen, die Formensprache der Antike wiederaufleben zu lassen. Und selbst die taucht auch bei Veronese im Hintergrund wieder auf.


In der Mitte: Jesus. Um ihn herum: die Jünger und noch ca. 40 andere Personen, die von der Inquisition als „Narren, betrunkene deutsche Landsknechte, Zwerge und ähnliche Skurrilitäten“ betitelt wurden, kurz nachdem das Gemälde fertig gestellt worden war.
Wie auf einer Bühne präsentiert sich die ausgelassene Festmahlsgesellschaft. Trunkene, sich Betrinkende, Diener, Narren, gierig Schauende, Fressende, sich Abwendende, Zerstreute, Feiernde, und ein Hund ganz vorn, bei Jesus.
Kein Wunder, dass der Künstler Probleme mit der Inquisition bekam. Jesus unter solchen Säufern. Und überhaupt – zwischen der ganzen Edelarchitektur und dem Trubel fällt er fast nicht auf.

In der Accademia, wo Veroneses Gastmahl heute hängt, werden täglich Hunderte von Menschen durchgeschleust, Kulturtouristen, die mehr oder weniger andächtig stehen bleiben vor den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei oder den bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Millionen von Menschen reisen hierher, um ein Stück Vergangenheit in sich aufzusaugen. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht, ihre Wichtigkeit, ihre Bedeutung verloren haben. („Gott ist nur eine Phase in der Kunst und diese Phase ist vorbei“)
Menschenmassen schauen sich eine in die Jahre gekommene Kunst an. Wo und wie berührt sie eine Darstellung Jesu, wenn sie nicht mehr an ihn glauben? Dass Veronese sich damals vor der Inquisition rechtfertigen musste, an die künstlerische Freiheit appellierte und seinen Anklägern schließlich ein Schnippchen schlug, indem er einfach den Bildtitel änderte – ist das heute nicht nur noch ein nettes Anekdötchen?
Es gilt also, sich auf die Suche nach dem Zeitlosen zu machen. Nach dem, was über die Moden der Epochen, die Eigenheiten der Zeitalter, gültig bleibt. Wenn man heute das Vergangene aufsucht, sucht man mehr als das Vergangene.
Je mehr Wissen man anhäuft über die Kunstwerke, die man betrachtet, umso mehr Zugang findet man. Es ist wie das Lernen einer Sprache. Je mehr Wörter man kennt, umso mehr wird sie einem verständlich, umso mehr Inhalt transportiert sie. Je mehr Symbole, Motive, Figuren man wieder erkennt, je mehr man über die Zeit weiß, aus der das Werk stammt, umso mehr Details erschließen sich, umso mehr sagt einem die Kunst.
Es wäre jedoch fatal, die Kunst darauf zu reduzieren. Das Einordnen, Zuordnen, das Verstehen, ist doch sehr an Zeit und Umfeld gebunden. Außerdem ist es undenkbar, dass Kunst nur mit speziellem Wissen zugänglich sei. Das Zeitlose in der Kunst findet man also nicht, indem man sich Wissen über die Zeit und die Kunst aneignet.


Palladios Schriften über die Baukunst, die „Quattro Libri“, sind einzigartig, suchen noch immer ihresgleichen und haben Jahrhunderte lang die Architektur weltweit geprägt. – Wer von uns weiß das schon? –
Das Geniale an seinem Werk ist eigentlich, dass er zunächst seinen eigenen Ausdruck, seine Sprache fand, indem er Versatzstücke aus der Antike neu zusammensetzte und auf ihren Nutzen für den Menschen hin immer wieder überprüfte. Aus dieser Formensprache leitete er nun eine Art architektonische Linguistik ab. Er stellte Regeln auf, wie eine Grammatik, um die einzelnen Formenelemente rund und stimmig zusammenzufügen. Säulenordnungen, Friese, Fenster, Arkaden, Kuppeln, Tafeln, Skulpturen.
Würde eine Sprache nur aus Worten bestehen, die man willkürlich zusammensetzte, klänge sie recht holprig oder wäre vielleicht gar nicht möglich. Durch die Grammatik bekommt sie Struktur und wird klarer.
Palladio entwickelte seine Grammatik aus genauesten Beobachtungen der Natur und des Menschen, denen er die Maße für allgemeingültige Proportionen und Anordnungen entnahm.

Zurück zu den Touristen auf den warmen glatten Steinen vor der großen weißen Kirche, wenn sie mit Flipflops an den Füßen auf sie zu latschen. Vielleicht fällt ihnen auf, dass das Postament, das sich am Grunde der Fassade standfest entlang zieht, genau dort, wo Kniekehle und Hüfte sitzen, kleine Absätze hat. Aber dies ist unwahrscheinlich. Doch was sich bestimmt einstellt, spätestens, wenn sie die Kirche betreten haben, ist dieses äußerst angenehme Raumgefühl. Ein ganzheitliches Raumgefühl. Alles ist zwar riesig, vielleicht gar klobig, doch passt das eine Element zum anderen, wird hier und dort wieder aufgegriffen, steht für sich, und fügt sich gleichzeitig voll und ganz in die Gesamtkonstruktion ein. Alles ist stimmig.
Liegt das Zeitlose in diesem Gefühl? Einem Gespür? Der Atmosphäre? Der Benjaminschen Aura? Nicht reproduzierbar und nur an Ort und Stelle vor und mit und in dem Kunstwerk erlebbar?
Um das Zeitlose zu finden braucht man Zeit. Zeit, um sich von dem Kunstwerk aufsaugen zu lassen, um sich auf Einzelheiten einzulassen.


Vor einem Leinwandkoloss wie dem Gastmahl im Hause des Levi gibt es so viel mehr zu sehen als die Darstellung einer Bibelszene. Diese war Auftrag und Anlass für die Fertigung des Gemäldes - doch kann man das Motiv vielleicht als eine Art Rahmen für die künstlerische Freiheit in allen Details sehen?
Das, was bleibt, was auch ungläubige Betrachter im hier und jetzt noch berührt, ist der Blick des Künstlers auf den Menschen.
Veronese wurde vielfach eine Leichtigkeit nachgesagt. Und gleichzeitig erkennt man in seinen Menschendarstellungen eine unglaubliche Präzision, eine Beobachtungsgabe, in deren Genauigkeit etwas Liebevolles liegt. In den einzelnen Gesichtern findet sich enorme Lebendigkeit, kleine Geschichten werden über Blicke, Kopf- und Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke erzählt.
Die Nähe zum Weltlichen ist das, was Veroneses Werk auszeichnet und bei ihm noch viel stärker hervortritt als bei anderen Renaissancemalern. (Da wäre zum Beispiel Tintorettos Abendmahl zu nennen, das zwar revolutionärerweise Christus und seine Jünger in weltlichen Räumen mit Bediensteten verortet, doch immer noch mit Engeln und Lichteinfall einen starken Fokus auf das biblische Motiv setzt.) In Veroneses Bild sondern sich Christus und seine Jünger dezent ab, durch die wohl durchdachte Bildkomposition, die sie gemeinsam unter der mittleren Arkade vereint ruhen lässt. So sitzt das Sakrale wohl eingebettet in dem Profanen, und zieht das Göttliche hinunter auf die Erde – auch ein Zeichen der Renaissance.

In den warmen, glatten Steinen vor der Kirche: versteinerte Muscheln. Noch älter, noch vergangener - und wer sie entdeckt, ist erstaunt. Die Vergangenheit noch präsenter in dieser uralten Spur, umso gegenwärtiger, umso lebendiger wird die Stadt hier, heute, jetzt.

Venedig/Textentwurf/Henrike Terheyden/ Brief

Dies ist eine zweite Version des endgültigen Textes, die Briefform funktioniert nicht. Der Text wird so leicht performativ (die fetten Zeilen sollen von einer CD gesprochen werden, die ich noch aufnehmen müsste, oder von einer Stimme aus dem Off), und ist auch etwas bearbeitet. Den Brief habe ich zum Vergleich nochmal drangehängt. Ich freue mich über Meinungen!

Status quo, Beobachtungen eines Zustands
Empfindlichkeit und Empfänglichkeit in mir. Es wächst und gebiert eine kitschige Pflanze sich nach allem, was auch nur einen Hauch von Zauber trägt, reckend und es in Liebe verwandelnd! Ich liebe hier alles, bin seltsam tief berührt, von scheinbar nichts konkretem. Es geht so weit: will Kinder machen! Ich will sie in meinen Armen wiegen und ihnen mein Hirn vermachen. Ich will hinein in einen Hortus Conclusus, meinen ganz persönlichen, ich will dort hocken und vielleicht mit spitzen Fingern eine Blume pflücken. Legt mich ein in kostbare Stoffe! Diesem Gedanken trage ich mein Herz nach. Meine Schritte wiegen Mütterlichkeit, Weiblichkeit, Rundes, Warmes, Sorgendes.

Bewertung des Beschriebenen Zustands und Einbettung in die Persönlichkeitsstruktur
Oh ja, widerlich!
Eva Hermann wäre stolz auf mich. Du weißt, das bringt mich um. Ich bin ja sonst auch nicht eben gerade Boxerin und sonst auch eher weich als krass, aber so schlimm wie hier war ich noch nie.

Begründung des Zustandes und Suche nach dem Sündenbock
Aber ich denke, es gibt Trost, denn meine Gedanken funktionieren noch so weit, als dass ich versuchen kann zu eruieren: Wo kommt das her, dieser Anfall von überbordender Fraulichkeit und Zeugungswillen? Giovanni Bellini und Fabrizio Plessi. Bellini aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er malte. Schuf lebensgroße Madonnen und leidende Söhne Gottes mit Öl auf Leinwand. Plessi lebt und baut Skulpturen aus Monitoren in Metall, Holz oder Stein. Diese lässt er um die Welt schiffen, um sie und sich sehen zu lassen. Er unterhält, wie Bellini es auch getan hat, (als die Kunst noch Handwerk war), eine eigene Werkstatt mit Arbeitern für seine Ideen. Beide diese Männer haben den Reichtum Venedigs mit den routinierten Blicken von Einwohnern kennen gelernt. Zwar in völlig verschiedenen Jahrhunderten, aber doch mit all den Konsequenzen. Sie sehen, sie schlucken, sie nehmen auf und haben Venedig im Blut. Das, was mich so staunend macht, muss ihnen schon ewig durch die Adern geflossen sein. Und beide ergehen sich so sehr in all dem seelenvollen Schwanken der Kanäle, Plessi in dezidiertem Bezug und Bellini so nebenbei in den Blicken seiner Figuren, in der Art und Weise, wie sie sich an Händen halten und wie sie Bezug aufeinander nehmen.

Deskription Sündenbock I:
Und Plessi, mit der Romantik eines Caspar David Friedrichs im Herzen verstanden, kann, so sagt er, sich emanzipieren von der Form, die diese Romantiker und Renaissancler wählten. Und Plessi zeichnet. Durchaus mit sicherem Strich, wirklich mit selbstbewusstem Farbauftrag, richtig mit gut durchdachter Komposition und einem durchschreitenden Gefühl für den Raum, macht er diese Zeichnungen, nach denen seine Gehilfen beginnen zu recherchieren und dann zu bauen. Es bleibt die Frage nach dem Original? Es bleibt die Frage nach dem Original. Plessi zeichnet das Original. Nein er zeichnet die Bilder vom Original. Die wirklichen Originale, das sind immer noch die Ideen, die Plessi hinter den Zeichnungen geborgen hat. Und genau da schlummert auch dieser mein heiliger Rausch von Weiblichkeit. Genau da liegt dieses alles betörende Ur- Raunen, das Plessi verströmt. Er raunt von den Elementen, die all seinen Arbeiten zu Grunde liegen, und die aus der Welt selbst kommen. Die da sind, weil sie sind, sie „welten“ vielleicht mit Heidegger. Und diesen Elementen der Welt verschafft Plessi Monitore. Denn die Elektronik in den Medien, mit denen er arbeitet, ist für ihn die Hitze des Feuers, man kann sie mit den Händen fühlen. Die Informationen, die durch sie hindurch fließen, sind das Wasser, das er natürlich als Transportmittel und auch Transportsubjekt gleichzeitig begreift (nicht umsonst ist er Venezianer). Über den Bildschirm werden diese Inhalte in die Welt transportiert und für die Zuschauer sichtbar gemacht, und flirrt die Luft. Die Erde liegt meistens im Werk selbst, die Monitore sind von Stein umgeben, oder von Holz oder von Metall. Die Medien sollen gelebt werden und belebt und beseelt. Seele. Großes Wort für Plessi. Plessi schafft über eine traumvolle aber weltbezogene Innerlichkeit ein Raum des Dazwischen, der schimmert und glitzert und voll von Rilkischer Romantik ist. Dieses Dazwischen, das entsteht durch die Gleichzeitigkeiten im Bild. Das Bild, das Plessi schafft, steht für sich und hat diese „weltenden“ Bezüge und zwar gleichzeitig: Erstens zu unserem Mensch-sein, (einem quasi Urseelenzustand) und zweitens zu unseren digitalen, medialen und entpersonalisierten Realitäten.


Beleg des Zustands durch nicht wissenschaftliche Empirie:
Und das macht an! Ja! Und während ich auf der Suche bin nach einer kleinen Bar für einen kleinen Kaffee, da sehe ich plötzlich den Himmel aus rosa orange, blau und lila in einem kleinen Streifen über den Dächern und auf den Häuserfassaden schiebt sich ein so sanftes Licht entlang. Und ich bin ganz verzückt und möchte vielleicht eine kleine Religion gründen, und dann schunkelt auch wirklich noch eine winzige weiße Feder von oben herab!

Empfundene Gemütsregung:
Scheiße!


Schlussfolgerung aus Gefühl von Machtlosigkeit, der Kraft des Zustands gegenüber, und Idee:

Und ich denke: Das einzige, was wirklich Sinn macht in Venedig ist schwanger zu sein und seine eigene intrinsische Zwischenmenschlichkeit zu haben, sonst hält man es nicht aus, sonst wird man depressiv, sonst geht das hier nicht. Und dann ist es mir klar geworden:

Ansichten eines dialektischen Hirns:
Plessi leidet unter Uterusneid. Der Mann! Die Seele, die Welt, die Elemente, dieses Sehnen nach einer fließenden Teilhabe am Werden! Das Sträuben gegen das Medium ist die Message, ganz klar, er kann ja nie selbst Medium für die Message sein! Unmengen von Zeichnungen, wenigstens Ausgeburten seines Hirns, die sich manifestieren, ach Plessi, ach Plessi. Ich meine das nicht ironisch! Ich psychologisiere hier vor mich hin und dann wird mir natürlich auch klar, wieso mich das so aggressiv macht, denn es gilt meinen fraulichen Vorzug zu bewahren! Jawohl! Das was im 19. Jahrhundert Freuds wohl gefeierter Penisneid war, das hat sich verkehrt. Im 21. Jahrhundert leiden die Männer unter Uterusneid. Oder lieber Placenta-Neid? Auch schön wäre Ovulationsneid, oder etwas wissenschaftlicher: Envirismus hysteriae. Wunderschön! Ist das der „Verdienst“ der Emanzipation? Wäre das schlimm? (Klar!) Ist das erforscht? Was bedeutet das für die Kunst? Man darf die Kunst nicht psychologisieren. Dann ist sie nicht mehr frei. Wer hätte nicht gerne ein gebärfreudiges Becken?

Fehlplatzierte, doch sachlich richtige Selbstanalyse:
Ich glaube ich werde hysterisch und muss aufpassen


Bipolare Darlegungsstrategie und Deskription Sündenbock II:
Außerdem klopft Bellini leise an. Bellini ist ja eigentlich auch nicht besser und erwischt mich auf genau dieser Schiene, wie Plessi es tut. Bei meinen ersten Vergleichen ging es mir um die Innerlichkeit der Arbeiten. Aber mir war nicht klar, dass es um solch konkrete Innerlichkeiten gehen könnte. Ich wollte doch auf das bildinnere Dazwischen rekurrieren, auf den Goldgrund, der die Beziehungen zwischen den Menschen schon in ein unstoffliches, aber doch verbindendes Element taucht. Das ist das, was mein Hirn begeistert, dass Bellini es schafft, eine solche Heiligkeit darzustellen, dass wir so eintauchen können, in die menschliche Tatsächlichkeit von gelebter Religion. Hier geht es nicht um caritative Zwecke und es geht nicht um fromme Betschulen, sondern es geht um das, was zwischen den Menschen wirklich passiert. Bellini wählt häufig das Bild der Maria mit ihrem Sohn. Und in ihren Blicken geht es immer um das Leben und das Sterben. Maria weiß in den Bildern mit dem Christuskind um den zu frühen Tod ihres Sohnes. Und als Pietá weiß sie dennoch um das „Weiter!“ in all der Trauer, deshalb kann sie ihn noch halten. Und das ist genau das, was Plessi mit seinen Elementen tut. Beide Künstler packen mich bei den Urelementen und -trieben ich finde das unverschämt und indiskret, obwohl ich dieses Gefühl süß genieße und darin schwelgend durch Venedigs Gassen gehe.

Pathologischer Zustand:
Die sich träge in mir räkelnde und ausdehnende Pflanze von kitschiger Heiligkeit wird langsam aggressiv. Ich muss hier weg! Wieso ist denn das alles so schön hier? Wo soll ich nur hin damit? Bitteschön? Plessi sprach von Venedig als einem Käfig. Recht hat er, aber abends bin ich müde.









Ich finde meinen Text noch sehr unzusammenhängend und zu lang und nicht deutlich genug. Aber es ist die erste stehende Fassung, vielleicht kann man aus ihr entnehmen, wie ich die Form wählen wollte. Aber ich komme in sie irgendwie nicht rein.
Der Film ist glaube ich zu groß, ich krieg ihn jedenfalls nicht hochgeladen. Weiß jemand, wie man sowas komprimiert? Geht das für den Blog?


Ich muss Dir schnell zurück schreiben, habe noch nicht einmal die Zeilen frei, Dir für Deinen langen Brief zu danken, denn es muss irgendwo hin heraus, weg aus all der Empfindlichkeit und Empfänglichkeit in mir. Dort wächst es und gebiert eine kitschige Pflanze sich nach allem, was auch nur einen Hauch von Zauber trägt, reckend und es in Liebe verwandelnd! Ich liebe hier alles, will Kinder machen und sie groß ziehen! Jawohl! Ich will sie in meinen Armen wiegen und ihnen mein Hirn vermachen. Ich will hinein in einen hortus conclusus, meinen eigenen ganz persönlichen, ich will dort hocken und vielleicht eine Blume pflücken mit sehr spitzen Fingern, und will eingelegt sein in weiche, zarte Stoffe! Und ich will lieben! Lasst mich lieben! Ich will die ganze Welt bemuttern! Lass mich einen Schleier tragen, wegen all meiner Unschuld und lass mich lieblich drein schauen und lass mich gut geerdete Mütterlichkeit sein, Weiblichkeit sein, die alles weiß und alles kann, aber nicht braucht, weil sie ist ja schon so sanft und sie ist ja schon so zart! Oh ja, widerlich!
Eva Hermann wäre stolz auf mich. Du weißt, das bringt mich um. Ich bin ja sonst auch nicht eben gerade ein Fight-Club- Rowdy und sonst auch eher weich als krass, aber so schlimm wie hier war ich noch nie.

Aber ich denke, es gibt Trost, zum Glück. Schuld nämlich an diesem peinlichen Zustand sind: Giovanni Bellini und Fabrizio Plessi. Beides Menschen aus ganz verschiedenen Ecken der Geschichte, Bellini aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er malte. Schuf lebensgroße Madonnen und leidende Söhne Gottes mit Öl auf Leinwand. Plessi lebt noch heute und baut Skulpturen aus Monitoren in Metall, Holz oder Stein. Diese lässt er um die Welt schiffen und stellt sie aus in Bangkok, Paris, New York, Berlin, Rom und in tausend anderen Städten. Er unterhält, wie die alten Meister, eine eigene Werkstatt, in der eine ganze Riege von Menschen an der Umsetzung seiner Ideen arbeiten. Beide diese Männer haben den Reichtum Venedigs mit den routinierten Blicken von Einwohnern kennen gelernt. Zwar in völlig verschiedenen Jahrhunderten, aber doch mit all den Konsequenzen. Und beide ergehen sich so sehr in all dem seelenvollen Schwanken der Kanäle, Plessi in dezidiertem Bezug und Bellini so nebenbei in den Blicken seiner Figuren, in der Art und Weise, wie sie sich an Händen halten und wie sie Bezug aufeinander nehmen.


Und Plessi, den wir trafen, und der fernab von Öl und Leinwand arbeitet, behauptet, das tue er nur nicht, weil er es sowieso könne. Besser als Tizian und besser als Bellini. Und weil er sie alle in ihrer Form sowieso in die Tasche stecken könne, die Romantik eines Caspar David Friedrichs aber in seinem Herzen verstanden habe, könne er sich emanzipieren von der Form, die diese wählten. Und Plessi zeichnet. Wirklich mit sicherem Strich, wirklich mit selbstbewusstem Farbauftrag, wirklich mit gut durchdachter Komposition und einem durchschreitenden Gefühl für den Raum, macht er diese Zeichnungen, nach denen seine Gehilfen beginnen zu recherchieren und dann zu bauen. Das Original, weißt Du noch, als wir in der Bar saßen und ich viel rauchte und zwar Deine Zigaretten, da sprachen wir darüber? Über die Frage nach dem Original? Da hast Du gesagt, ein Original, das müsse es geben, sonst sei es keine Kunst, sondern nur Kopie und das sei Dein Problem mit der modernen Kunst? Plessi zeichnet die Originale, wenn Du so willst. Aber eigentlich stimmt das noch nicht. Die wirklichen Originale, das sind immer noch die Ideen, die Plessi hinter den Zeichnungen geborgen hat. Und genau da schlummert auch dieser mein heiliger Rausch von Weiblichkeit. Genau da liegt dieses alles betörende Ur- Raunen, das Plessi verströmt. Er raunt von den Elementen, die all seinen Arbeiten zu Grunde liegen, und die aus der Welt selbst kommen. Die da sind, weil sie sind, sie „welten“ vielleicht mit Heidegger. Und diesen Elementen der Welt verschafft Plessi Monitore. Denn die Elektronik in den Medien, mit denen er arbeitet, ist für ihn die Hitze des Feuers, man kann sie mit den Händen fühlen. Die Informationen, die durch sie hindurch fließen, sind das Wasser, das er natürlich als Transportmittel und auch Transportsubjekt gleichzeitig begreift (nicht umsonst ist er Venezianer). Über den Bildschirm werden diese Inhalte in die Welt transportiert und für die Zuschauer sichtbar gemacht, und da hast Du die Luft. Die Erde liegt meistens im Werk selbst, die Monitore sind von Stein umgeben, oder von Holz oder von Metall. Und kulturvoll möge man mit den neuen Medien umgehen, man darf sie nicht verbrauchen, nicht sinnlos. Sie sollen gelebt werden und belebt und beseelt. Seele. Großes Wort für Plessi. Plessi schafft über eine traumvolle aber weltbezogene Innerlichkeit ein Raum des Dazwischen, der schimmert und glitzert und voll von Rilkischer Romantik ist. Dieses Dazwischen, das entsteht durch die Gleichzeitigkeiten im Bild. Das Bild, das Plessi schafft, steht für sich und hat diese „weltenden“ Bezüge und zwar gleichzeitig: Erstens zu unserem Mensch-sein, (einem quasi Urseelenzustand) und zweitens zu unseren digitalen, medialen und entpersonalisierten Realitäten.

Und das macht an! Ja! Und während ich auf der Suche bin nach einer kleinen Bar für einen kleinen Kaffee, da sehe ich plötzlich den Himmel aus rosa orange, blau und lila in einem kleinen Streifen über den Dächern und auf den Häuserfassaden schiebt sich ein so sanftes Licht entlang. Und ich bin ganz verzückt und möchte vielleicht eine kleine Religion gründen, und dann schunkelt auch noch eine kleine weiße flauschige Feder von oben herab! Scheiße! Und ich denke: Das einzige, was wirklich Sinn macht in Venedig ist schwanger zu sein und seine eigene intrinsische Zwischenmenschlichkeit zu haben, sonst hält man es nicht aus, sonst wird man depressiv, sonst geht das hier nicht. Und dann ist es mir klar geworden: Plessi leidet unter Uterusneid! Der arme Mann! Die Seele, die Welt, die Elemente, dieses Sehnen nach einer fließenden Teilhabe am Werden! Das Sträuben gegen das Medium ist die Message, ganz klar, er kann ja nie selbst Medium für die Message sein! Unmengen von Zeichnungen, wenigstens Ausgeburten seines Hirns, die sich manifestieren, ach Plessi, ach Plessi. Ich meine das nicht ironisch! Ich psychologisiere hier vor mich hin und dann wird mir natürlich auch klar, wieso mich das so aggressiv macht, denn es gilt meinen fraulichen Vorzug zu bewahren! Jawohl! Das was im 19. Jahrhundert Freuds wohl gefeierter Penisneid war, das hat sich verkehrt. Im 21. Jahrhundert leiden die Männer unter Uterusneid. Oder lieber Placenta-Neid? Auch schön wäre Ovulationsneid, oder etwas wissenschaftlicher: Envirismus hysteriae. Wunderschön! Ist das der „Verdienst“ der Emanzipation? Wäre das schlimm? (Klar!) Ist das erforscht? Was bedeutet das für die Kunst? Man darf die Kunst nicht psychologisieren. Dann ist sie nicht mehr frei. Hättest Du auch gerne ein gebärfreudiges Becken? Ich glaube ich werde hysterisch und muss aufpassen, außerdem klopft Bellini leise an.

Bellini ist ja eigentlich auch nicht besser und erwischt mich auf genau dieser Schiene, wie Plessi es tut. Bei meinen ersten Vergleichen ging es mir um die Innerlichkeit der Arbeiten. Aber mir war nicht klar, dass es um solch konkrete Innerlichkeiten gehen könnte. Ich wollte doch auf das bildinnere Dazwischen rekurrieren, auf den Goldgrund, der die Beziehungen zwischen den Menschen schon in ein unstoffliches, aber doch verbindendes Element taucht. Das ist das, was mein Hirn begeistert, dass Bellini es schafft eine solche Heiligkeit darzustellen, dass wir so eintauchen können, in die menschliche Tatsächlichkeit von gelebter Religion. Sehr fern das Ganze. Hier geht es nicht um caritative Zwecke und es geht nicht um fromme Betschulen, sondern es geht um das was zwischen den Menschen wirklich passiert. Bellini wählt häufig das Bild der Maria mit ihrem Sohn. Und in ihren Blicken geht es immer um das Leben und das Sterben. Maria weiß in den Bildern mit dem Christuskind um den zu frühen Tod ihres Sohnes. Und als Pietá weiß sie dennoch um das „Weiter!“ in all der Trauer, deshalb kann sie ihn noch halten. Und das ist genau das, was Plessi mit seinen Elementen tut. Beide Künstler packen mich bei den Urelementen und -trieben ich finde das unverschämt und indiskret, obwohl ich dieses Gefühl süß genieße und darin schwelgend durch Venedigs Gassen gehe.


Die sich träge in mir räkelnde und ausdehnende Pflanze von kitschiger Heiligkeit wird langsam aggressiv. Ich muss hier weg! Wieso ist denn das alles so schön hier? Wo soll ich denn hin damit? Bitteschön? Plessi sprach von Venedig als einem Käfig. Recht hat er, aber abends bin ich müde.

Ich freue mich auf den Flieger zurück zu Dir. Ich bringe Dir Bilder mit und Stoffe. Und vielleicht ein bisschen Goldstaub aus dem Schmelztiegel meines Kitsches. Holst Du mich ab, wenn ich komme?