Sonntag, 15. Juni 2008

Textentwurf zu Bildern Carpaccios/ Juliane Link

der Kenntnisreiche:

Wir befinden uns hier in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, Gildehaus der Laienbruderschaft der Dalmatiner, gegründet 1451. Das Gebäude stammt aus dem 16. Jahrhundert.

die Dame:

Mittags, wenn die Sonne zu Stechen beginnt, in den Gassen wechselt gleißendes Licht mit harten Schatten, besuche ich sie, deine Gestalten im Halbdunkel der Scuola. Sie sind mir vertraut, ich kenne ihre Gesichter, ihre Gesten, könnte blind den Faltenwurf ihrer Gewänder nachzeichnen oder die Form ihrer Schatten. Links von mir der Drache, der sich vor Schmerz aufbäumt, vorn Musik und Getümmel über der Holzvertäfelung, rechts fliehen Mönche Richtung Bildrand. Ich bin müde, setzte mich auf eine der Bänke aus dunklem Holz, stütze den Kopf auf die rechte Hand, schließe die Augen. Als ich erwache sitzt du neben mir und zeichnest, später finde ich meine Züge wieder in Ursulas Gesicht, so also sehe ich aus mit geschlossenen Augen. Ursula liegt regungslos, die Decke bis unters Kinn gezogen, so ordentlich schlafe ich nicht, so gerade. Du träumst auch nicht von Engeln, sagst du. Wie Ursula schlafen nur Tote und Heilige.

der Kenntnisreiche:

Im Untergeschoß ist der Gemäldezyklus vollzählig erhalten, den Vittore Carpaccio in den Jahren 1502 bis 1507 für die Scuola gemalt hat. Sehr bedeutend für die venezianische Kunst, für die Kunstgeschichte überhaupt. Sie werden sehen.

die Dame:

Ich suche nach einer Jahreszahl, ich habe Zahlen nie leiden können, hatte immer Schwierigkeiten sie mir zu merken, jetzt brauche ich sie, um die inneren Bilder zu ordnen, ich hänge meine Erinnerungen an ihnen auf, wie Wäschestücke an einer Schnur, zwischen zwei Häuserwände gespannt, der Wind fährt hindurch, kühlt mir für einen Moment das Gesicht. Es ist schwül, die Luft schwer von Feuchtigkeit, die Wäsche trocknet langsam, wie die erste Farbschicht auf deiner Leinwand. Ich habe sie wahllos in eine Reihenfolge gebracht, die abgetragenen Stoffe, zwischen ihnen klaffen Lücken im Erinnerungsgewebe, Leerstellen, die mir die Dinge isolieren, hätte ich die Zahlen nicht, die Zeitschnur, die Verbindungslinie.

1502. Es war 1502, kurz nach der Jahrhundertwende, in der Stadt, die noch immer laut und fröhlich ist, mir zu bunt, zu leutselig, in der Stadt ein seltsames Vibrieren, es liegt etwas in der Luft, sagst du. Vielleicht wieder die Pest, sage ich.

der Kenntnisreiche:

Zu Ihrer Linken sehen Sie die an der Legenda aurea orientierte Geschichte des Heiligen Georgs mit dem Drachen, in drei Phasen und drei Leinwandbilder unterteilt. Der Heilige Georg, Drachentöter und Märtyrer, wird in der Ostkirche besonders verehrt.

die Dame:

1502 also bekamst du den Auftrag. Dein zweiter großer Auftrag, nach der Heiligen Ursula. Sie bringt dir Glück, sage ich. Du bringst mir Glück, sagst du.

der Kenntnisreiche:

Als Heiligenattribute dienen ihm eine Lanze und manchmal Palmen. Als Schutzheiliger hilft Georg gegen die Pest, sorgt für gutes Wetter und beschützt das Byzantinische Reich.

die Dame:

Nach Ursula jetzt also der Heilige Georg. Ein gutes Motiv sagst du, ein Spannungsmoment, eine Geschichte. Das ist dir lieber als die stillen Anbetungsszenen der Sacra Conversazione, in denen die Figuren doch schweigen müssen, in denen du das Heilige malen sollst, nicht aber das Gespräch. Ganz anders beim Heiligen Georg, dem Ritter, der auszog, um Silena von einem Untier zu befreien, einem Drachen, der die Stadt tyrannisierte: er verpestete die Luft mit seinem Feueratem, verschlang zweimal täglich ein Schaf, forderte bald Menschenopfer, die Prinzessin zuerst. In deinen Bildern wirst du die Geschichte verdichten, die wenigen Momente herausfiltern, die alles entscheiden, Schlüsselszenen mit dem Pinsel erzählen.

der Kenntnisreiche:

Der christliche Drache ist der Widersacher Gottes, er verkörpert das Prinzip des Dunklen, Ungeheuren, Bedrohlichen und Bösen. In der biblischen Apokalypse bezwingt der Erzengel Michael einen feuerroten, siebenköpfigen Drachen, im Drachenkämpfer Georg findet der Heilige Michael sein Ebenbild auf Erden. Den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen, das ist die Aufgabe des Ritters in der mittelalterlichen Ideologie. Wer zum Ritter geschlagen wird, der muss seinen Drachen suchen und überwinden.

die Dame:

Der Drache fletscht die Zähne, länglicher Kiefer, lückenlose Zahnreihe, hundert winzige, osmanische Dolche im Maul, zieht durch die Nasenlöcher Luft ein, reißt den Rachen auf. Das Pferd, nur einen halben Meter entfernt, schirrt aus, bäumt sich auf, die Vorderhufe erhoben, der Kopf geneigt, schon halbabgewandt zur Flucht, dann aber Georg, entschlossener Blick, wehendes Haar, Georg aufrecht im Sattel, die Rüstung, ein schwarzer Panzer, glänzt im Sonnenlicht, Georg, den Kopf nach vorn gebeugt, sieht der Gefahr ins Gesicht, unerschrocken, furchtlos, stürmisch, sticht zu, durchbohrt den Schädel des Untiers mit seiner Lanze, ihre Spitze bricht am Hinterkopf des Drachens hervor, mit solcher Wucht hat Georg zugestoßen. Der Drache verdreht die Augen, die Pupillen rutschen nach oben, aus seinem Maul fließt Blut, die Ohren erschlaffen, die Flügel noch vor Anspannung gespreizt, erstarren, an den Hinterbeinen stellen sich die Haare senkrecht, der Schwanz windet sich im Schmerz, der Kampf ist entschieden.

der Kenntnisreiche:

Der Heilige Georg war Soldat. Er wurde von den Venezianern besonders verehrt, seitdem sie in langjährige Konflikte mit den Türken gerieten. Die Türken bedrohten die Vormachtstellung Venedigs im Mittelmeerraum. Denn sie waren im Laufe des 15. Jahrhunderts immer weiter in venezianisches Territorium vorgedrungen und hatten 1453 Konstantinopel erobert. Der Drache also auch als Sinnbild für das türkische „Monster“, der christliche Ritter für die Streitmacht Venedigs.

die Dame:

Übrigens finde ich sie noch immer widerlich, die Leichenteile, die du über das Schlachtfeld verstreut hast, mir graut es vor deiner Genauigkeit. Totenköpfe, mit halbgeöffnetem Mund, manchmal höre ich sie leise röcheln, ein Gerippe, das die Arme vor der Brust verschränkt, zerfetzte Körper, klaffende Wunden, freigelegte Muskeln, ein angefaulter Fuß, die Haut fahl, an den Rändern gräulich, daneben ein Schädel der aus dem Lehmboden wuchert, ein totes Mädchen mit verstümmeltem Unterleib, Fingerknochen in die Erde verkrallt, dazwischen Echsen, Kröten, Schlangen mit verknoteten Körpern, feuchte, schwarz-grüne Tiere, in deiner Werkstatt kriechen sie lautlos über den Marmorboden, abends riechen deine Hände nach Fäulnis, nach verdorbenem Fisch.

der Kenntnisreiche:

Carpaccios Drache ist nicht schrecklich in seiner Erscheinung, umso schrecklicher aber ist sein Regime, sind die Überreste seines Wütens.

die Dame:

Wie findest du es, fragst du, als das Bild fertig ist, erwartest Bewunderung für deine anatomischen Kenntnisse, die perspektivischen Verkürzungen, die Anschaulichkeit deiner Toten, furchtbar, sage ich, abscheulich.

der Kenntnisreiche:

Nun zum Hl. Hieronymus, der 347 in Dalmatien geboren wurde und zu den vier spätantiken Kirchenlehrern des Westens zählt. Auf der rechten Längswand im Untergeschoß der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni sind ihm drei Gemälde gewidmet, ebenfalls Werke Vittore Carpaccios.

die Dame

Wenn ich genug habe vom Drachentöten, drehe ich mich um, wende mich dem Heiligen Hieronymus zu, der dich faszinierte wie kein anderer. Abends sitzt du über seinen Schriften, manchmal liest du mir einen Satz vor, prüfst seinen Klang, sein Gewicht, ich verstehe nur einzelne Worte, mein Latein reicht nicht aus.

der Kenntnisreiche:

Er war Gelehrter und Theologe und übersetzte die Bibel in das gesprochene Latein seiner Zeit. Er pflegte zu sagen:

Hl. Hieronymus:

Sei mir gnädig, Herr, weil ich Dalmatiner bin.

die Dame:

Gemalt hast du ihn bärtig, in hohem Alter wie mir scheint, auf einen Stab gestützt trotzdem aufrecht, sein Körper die einzige Horizontale im Vordergrund, ein Ruhepol, zu dem ich zurückkehre, wann immer ich den Blick schweifen lasse, die Gedanken.

der Kenntnisreiche:

Der Legende nach soll er einen Löwen von seiner Qual befreit haben, indem er ihm einen Dorn aus der Pranke zog. Dieser wurde darauf zahm und ihm ein treu ergebener Gefährte.

die Dame:

In dieser Stadt überall Löwen, steinern, vergoldet, geflügelt. Venedigs Wappentiere immer mit stolzgeschwellter Brust, ganz wie die Männer der Serenissima. Dein Löwe an der Seite des Hieronymus dagegen so wenig überheblich, verzichtet auf Gebrüll, er vertreibt mich nicht.

Keine Kommentare: