Samstag, 14. Juni 2008

Sara Magdalena Schüller/endgültiger Text_Entwurf

Die Morbidität Venedigs in meinem Bücherregal
In der Abwesenheit Venedigs durchforste ich meine Bücher auf der Suche nach den Spuren dieser untergehenden Stadt. Wie von selbst schlängeln sich die Bücher-Themen nach venezianischer Kanalmanier um ähnlich morbide Themen, enden allesamt im Todesmeer.

„Es war ein Meisterschuß. Die Ärzte waren entzückt. Ich wurde herumgereicht. Zur rechten Schläfe hinein und zur linken hinaus. Ganz gut für einen Anfänger“, so Emilio der in Blick auf Venedig von Günther Eich nach einer erfolgreichen Behandlung seiner Blindheit mit der neuen Welt nicht zurecht kommt und sich schließlich diesen Schuss setzt, um sein Augenlicht abermals zu verlieren und in Venedig wieder als Blinder zu leben.
Und auch in Stadt der Masken, ein Jugendroman, der sowohl in England der Jetztzeit als auch in einer Art Parallelwelt zum Venedig des Mittelalters spielt, geht es um das Thema Tod: der jugendliche Protagonist leidet an Leukämie und stirbt schließlich in der Jetztzeit, während er in der Parallelwelt des mittelalterlichen Venedigs weiterleben kann.
Oder die Kriminalromane der Bestseller-Autorin Donna Leon: Ihr berühmt gewordener und mittlerweile auch verfilmter Comissario Brunetti ist stets mit der Aufklärung dunkler Gewaltverbrechen in der Stadt der Vaporetti unterwegs. Der Widerspruch zwischen der romantischen Kulisse der Kanäle, Gondeln, Kirchen, Markusplatz, Tauben und dergleichen und dem schmutzigen, stinkenden Kanalwasser, in dem Leichen treiben, verleiht diesen Verbrechen eine besonders gruselige Konnotation.
Der Klassiker sämtlicher Deutsch-Leistungskurse Der Tod in Venedig von Thomas Mann unterstreicht die These der Verarbeitung Venedigs als morbide Stadt in der Literatur aufs deutlichste: Hier tritt der Tod sogar als personifizierte Gestalt auf, die den Protagonisten heimsuchen und ihm ein Ende setzen wird. Das langsame Hinsiechen ist beim puren Lesen des Titels bereits spürbar.
Und auch in völlig anderen Zusammenhängen taucht Venedig als die mit dem Tod verbundene Stadt auf: so hat beispielsweise Rilke hier vom Tod seiner seelenverwandten Freundin, der Malerin Paula Modersohn Becker erfahren.
Soweit zu meinem Bücherregal.

Lebt die Stadt nicht vor allem von dem, was war und schlägt noch ein Geschäft aus ihrem eigenen angekündigten Untergang?
Was könnte nicht morbider und venezianischer zugleich sein?

Venedig/Logo/Henrike Terheyden/Entwurf 1



Was haltet ihr von dem Entwurf? Ich weiß, das ist alles noch krumm und schief, und ich bin froh, wenn eine/r von Euch ein gekonnter Graphikermensch ist und die Chose in die Hand nehmen will. Ich bitte um Verbesserungshilfen und Vorschläge.

postvenedig/ endgültiger text/ svenja wolff/ das zeitlose suchen

Neue Fassung, Montag, 23.6.


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Das Zeitlose suchen


Zwischen Geschichte und Gegenwart liegt die Stadt. Ist ganz Venedig ein Museum?
Was machen die Bilder mit uns? Was machen wir mit den Bildern? Wäre irgendetwas denkbar ohne Kunst? Wäre irgendetwas denkbar ohne Geschichte?


Vom Ufer der Riva, vom Dogenpalast aus, blickt man über das grüngraue Wasser der Lagune auf die strahlend weiße Kirche San Giorgio Maggiore. Istrischer Marmor. Kolossal steht sie da, in ihrer konsequenten Symmetrie, die Handschrift Andrea Palladios deutlich lesbar.
In ihr vereint, das Zitat zweier antiker Tempelfronten, übereinander gesetzt und zu einer Fassade verschmolzen. Massive Säulen treten aus ihr hervor, Giebel zeichnen sich ab.
Gekrönt von fünf Statuen, mit Zahnfries und korinthischen Kapitellen versehen, ist sie verziert und dennoch in ihrer Struktur ganz klar und deutlich.

In Venedig ist das Vergangene die Gegenwart. Man ist umgeben von jahrhundertealten Steinen, Gemäuern, Gebäuden, wird eingehüllt von der Geschichte, in Form von unzähligen Gemälden, verzierten Fassaden, Säulen, Reliefs, architektonischen Meisterwerken. Alles aus längst vergangener Zeit, und nicht nur im Fall Palladios, sich sogar damals schon auf Vergangenes beziehend.

Andrea Palladio. Einer der bedeutendsten Architekten der Vergangenheit. Und der Gegenwart? Zu seinen Lebzeiten und über sie hinaus war er es. Die Gunst der Renaissance - dem Lebenswandel zum Weltlichen im 16. Jahrhundert - hat er es zu verdanken, dass seine Villen auf dem Festland sich äußerster Beliebtheit freuten, und ihm schließlich auch Aufträge in der edlen, mächtigen Stadt einbrachten. Wie besessen erforschte und zeichnete er alte, römische Tempel und las die Schriften Vitruvs, um die Essenz der antiken Baukunst herauszufiltern und die seinige mit ihr anzufüllen.

Was erzählt sie heute, die alte San Giorgio? Was erzählt sie den Menschen, die mit dem Vaporetto übersetzen um zu ihr zu gelangen, sich ihr langsam übers Wasser nähern, bis sie vor ihr stehen, auf warmem glattem Stein. Sind sie beeindruckt von ihrem Konstrukt? Von ihrer Massivität? Oder lockt sie nur der Glockenturm alias Aussichtsturm? Wissen sie etwas vom Architekten und seiner Zeit? Wollen sie es wissen?
Wie beeindruckt sie ein alter Sakralbau, wenn es doch so viele gibt? Höher, schneller, weiter, präziser sind die Errungenschaften der Gegenwart allemal, möchte man meinen. Wo berührt das Vergangene die Gegenwart?


Während Palladio mit dem Bau seiner San Giorgio beschäftigt war, erschuf in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein anderer Meister, mit Namen Paolo Veronese, ein ähnlich kolossales Werk - das Gastmahl im Hause des Levi, 5,6 x 13,09 Meter, Öl auf Leinwand.
Das Bild wird dominiert von drei riesigen, zierreich gemalten Arkadenbögen, unter denen sich eine wilde Szene abspielt - ursprünglich das Abendmahl, bei Veronese aber zu festlichem Chaos umgestaltet.

Die Dinge wiederholen sich. Die Motive der Gemälde werden immer wieder aufgegriffen, meist sind sie der Bibel oder antiker Mythologie entlehnt. Verkündigungsszenen. Kreuzigungsszenen. Heiligendarstellungen. Heiligenzyklen. Madonnen. Pietà. Sacra Conversazione, Abendmähler, Gastmähler.
Die Architekten taten es nicht anders, als sie anfingen, die Formensprache der Antike wiederaufleben zu lassen. Und selbst die taucht auch bei Veronese im Hintergrund wieder auf.


In der Mitte: Jesus. Um ihn herum: die Jünger und noch ca. 40 andere Personen, die von der Inquisition als „Narren, betrunkene deutsche Landsknechte, Zwerge und ähnliche Skurrilitäten“ betitelt wurden, kurz nachdem das Gemälde fertig gestellt worden war.
Wie auf einer Bühne präsentiert sich die ausgelassene Festmahlsgesellschaft. Trunkene, sich Betrinkende, Diener, Narren, gierig Schauende, Fressende, sich Abwendende, Zerstreute, Feiernde, und ein Hund ganz vorn, bei Jesus.
Kein Wunder, dass der Künstler Probleme mit der Inquisition bekam. Jesus unter solchen Säufern. Und überhaupt – zwischen der ganzen Edelarchitektur und dem Trubel fällt er fast nicht auf.

In der Accademia, wo Veroneses Gastmahl heute hängt, werden täglich Hunderte von Menschen durchgeschleust, Kulturtouristen, die mehr oder weniger andächtig stehen bleiben vor den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei oder den bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Millionen von Menschen reisen hierher, um ein Stück Vergangenheit in sich aufzusaugen. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht, ihre Wichtigkeit, ihre Bedeutung verloren haben. („Gott ist nur eine Phase in der Kunst und diese Phase ist vorbei“)
Menschenmassen schauen sich eine in die Jahre gekommene Kunst an. Wo und wie berührt sie eine Darstellung Jesu, wenn sie nicht mehr an ihn glauben? Dass Veronese sich damals vor der Inquisition rechtfertigen musste, an die künstlerische Freiheit appellierte und seinen Anklägern schließlich ein Schnippchen schlug, indem er einfach den Bildtitel änderte – ist das heute nicht nur noch ein nettes Anekdötchen?
Es gilt also, sich auf die Suche nach dem Zeitlosen zu machen. Nach dem, was über die Moden der Epochen, die Eigenheiten der Zeitalter, gültig bleibt. Wenn man heute das Vergangene aufsucht, sucht man mehr als das Vergangene.
Je mehr Wissen man anhäuft über die Kunstwerke, die man betrachtet, umso mehr Zugang findet man. Es ist wie das Lernen einer Sprache. Je mehr Wörter man kennt, umso mehr wird sie einem verständlich, umso mehr Inhalt transportiert sie. Je mehr Symbole, Motive, Figuren man wieder erkennt, je mehr man über die Zeit weiß, aus der das Werk stammt, umso mehr Details erschließen sich, umso mehr sagt einem die Kunst.
Es wäre jedoch fatal, die Kunst darauf zu reduzieren. Das Einordnen, Zuordnen, das Verstehen, ist doch sehr an Zeit und Umfeld gebunden. Außerdem ist es undenkbar, dass Kunst nur mit speziellem Wissen zugänglich sei. Das Zeitlose in der Kunst findet man also nicht, indem man sich Wissen über die Zeit und die Kunst aneignet.


Palladios Schriften über die Baukunst, die „Quattro Libri“, sind einzigartig, suchen noch immer ihresgleichen und haben Jahrhunderte lang die Architektur weltweit geprägt. – Wer von uns weiß das schon? –
Das Geniale an seinem Werk ist eigentlich, dass er zunächst seinen eigenen Ausdruck, seine Sprache fand, indem er Versatzstücke aus der Antike neu zusammensetzte und auf ihren Nutzen für den Menschen hin immer wieder überprüfte. Aus dieser Formensprache leitete er nun eine Art architektonische Linguistik ab. Er stellte Regeln auf, wie eine Grammatik, um die einzelnen Formenelemente rund und stimmig zusammenzufügen. Säulenordnungen, Friese, Fenster, Arkaden, Kuppeln, Tafeln, Skulpturen.
Würde eine Sprache nur aus Worten bestehen, die man willkürlich zusammensetzte, klänge sie recht holprig oder wäre vielleicht gar nicht möglich. Durch die Grammatik bekommt sie Struktur und wird klarer.
Palladio entwickelte seine Grammatik aus genauesten Beobachtungen der Natur und des Menschen, denen er die Maße für allgemeingültige Proportionen und Anordnungen entnahm.

Zurück zu den Touristen auf den warmen glatten Steinen vor der großen weißen Kirche, wenn sie mit Flipflops an den Füßen auf sie zu latschen. Vielleicht fällt ihnen auf, dass das Postament, das sich am Grunde der Fassade standfest entlang zieht, genau dort, wo Kniekehle und Hüfte sitzen, kleine Absätze hat. Aber dies ist unwahrscheinlich. Doch was sich bestimmt einstellt, spätestens, wenn sie die Kirche betreten haben, ist dieses äußerst angenehme Raumgefühl. Ein ganzheitliches Raumgefühl. Alles ist zwar riesig, vielleicht gar klobig, doch passt das eine Element zum anderen, wird hier und dort wieder aufgegriffen, steht für sich, und fügt sich gleichzeitig voll und ganz in die Gesamtkonstruktion ein. Alles ist stimmig.
Liegt das Zeitlose in diesem Gefühl? Einem Gespür? Der Atmosphäre? Der Benjaminschen Aura? Nicht reproduzierbar und nur an Ort und Stelle vor und mit und in dem Kunstwerk erlebbar?
Um das Zeitlose zu finden braucht man Zeit. Zeit, um sich von dem Kunstwerk aufsaugen zu lassen, um sich auf Einzelheiten einzulassen.


Vor einem Leinwandkoloss wie dem Gastmahl im Hause des Levi gibt es so viel mehr zu sehen als die Darstellung einer Bibelszene. Diese war Auftrag und Anlass für die Fertigung des Gemäldes - doch kann man das Motiv vielleicht als eine Art Rahmen für die künstlerische Freiheit in allen Details sehen?
Das, was bleibt, was auch ungläubige Betrachter im hier und jetzt noch berührt, ist der Blick des Künstlers auf den Menschen.
Veronese wurde vielfach eine Leichtigkeit nachgesagt. Und gleichzeitig erkennt man in seinen Menschendarstellungen eine unglaubliche Präzision, eine Beobachtungsgabe, in deren Genauigkeit etwas Liebevolles liegt. In den einzelnen Gesichtern findet sich enorme Lebendigkeit, kleine Geschichten werden über Blicke, Kopf- und Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke erzählt.
Die Nähe zum Weltlichen ist das, was Veroneses Werk auszeichnet und bei ihm noch viel stärker hervortritt als bei anderen Renaissancemalern. (Da wäre zum Beispiel Tintorettos Abendmahl zu nennen, das zwar revolutionärerweise Christus und seine Jünger in weltlichen Räumen mit Bediensteten verortet, doch immer noch mit Engeln und Lichteinfall einen starken Fokus auf das biblische Motiv setzt.) In Veroneses Bild sondern sich Christus und seine Jünger dezent ab, durch die wohl durchdachte Bildkomposition, die sie gemeinsam unter der mittleren Arkade vereint ruhen lässt. So sitzt das Sakrale wohl eingebettet in dem Profanen, und zieht das Göttliche hinunter auf die Erde – auch ein Zeichen der Renaissance.

In den warmen, glatten Steinen vor der Kirche: versteinerte Muscheln. Noch älter, noch vergangener - und wer sie entdeckt, ist erstaunt. Die Vergangenheit noch präsenter in dieser uralten Spur, umso gegenwärtiger, umso lebendiger wird die Stadt hier, heute, jetzt.

Venedig/Zeichnungen/Henrike Terheyden/ Vaporetto-oma



Auf der Fahrt von St.Alvise (unserer chinesischen Unterkunft) zum Zattere, Don Orione, erstes Treffen, Tag zwei.
Ich bin beeindruckt von der Coolness der venezianischen Rentnerinnen in all ihrem Zeug.

Venedig/Textentwurf/Henrike Terheyden/ Brief

Dies ist eine zweite Version des endgültigen Textes, die Briefform funktioniert nicht. Der Text wird so leicht performativ (die fetten Zeilen sollen von einer CD gesprochen werden, die ich noch aufnehmen müsste, oder von einer Stimme aus dem Off), und ist auch etwas bearbeitet. Den Brief habe ich zum Vergleich nochmal drangehängt. Ich freue mich über Meinungen!

Status quo, Beobachtungen eines Zustands
Empfindlichkeit und Empfänglichkeit in mir. Es wächst und gebiert eine kitschige Pflanze sich nach allem, was auch nur einen Hauch von Zauber trägt, reckend und es in Liebe verwandelnd! Ich liebe hier alles, bin seltsam tief berührt, von scheinbar nichts konkretem. Es geht so weit: will Kinder machen! Ich will sie in meinen Armen wiegen und ihnen mein Hirn vermachen. Ich will hinein in einen Hortus Conclusus, meinen ganz persönlichen, ich will dort hocken und vielleicht mit spitzen Fingern eine Blume pflücken. Legt mich ein in kostbare Stoffe! Diesem Gedanken trage ich mein Herz nach. Meine Schritte wiegen Mütterlichkeit, Weiblichkeit, Rundes, Warmes, Sorgendes.

Bewertung des Beschriebenen Zustands und Einbettung in die Persönlichkeitsstruktur
Oh ja, widerlich!
Eva Hermann wäre stolz auf mich. Du weißt, das bringt mich um. Ich bin ja sonst auch nicht eben gerade Boxerin und sonst auch eher weich als krass, aber so schlimm wie hier war ich noch nie.

Begründung des Zustandes und Suche nach dem Sündenbock
Aber ich denke, es gibt Trost, denn meine Gedanken funktionieren noch so weit, als dass ich versuchen kann zu eruieren: Wo kommt das her, dieser Anfall von überbordender Fraulichkeit und Zeugungswillen? Giovanni Bellini und Fabrizio Plessi. Bellini aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er malte. Schuf lebensgroße Madonnen und leidende Söhne Gottes mit Öl auf Leinwand. Plessi lebt und baut Skulpturen aus Monitoren in Metall, Holz oder Stein. Diese lässt er um die Welt schiffen, um sie und sich sehen zu lassen. Er unterhält, wie Bellini es auch getan hat, (als die Kunst noch Handwerk war), eine eigene Werkstatt mit Arbeitern für seine Ideen. Beide diese Männer haben den Reichtum Venedigs mit den routinierten Blicken von Einwohnern kennen gelernt. Zwar in völlig verschiedenen Jahrhunderten, aber doch mit all den Konsequenzen. Sie sehen, sie schlucken, sie nehmen auf und haben Venedig im Blut. Das, was mich so staunend macht, muss ihnen schon ewig durch die Adern geflossen sein. Und beide ergehen sich so sehr in all dem seelenvollen Schwanken der Kanäle, Plessi in dezidiertem Bezug und Bellini so nebenbei in den Blicken seiner Figuren, in der Art und Weise, wie sie sich an Händen halten und wie sie Bezug aufeinander nehmen.

Deskription Sündenbock I:
Und Plessi, mit der Romantik eines Caspar David Friedrichs im Herzen verstanden, kann, so sagt er, sich emanzipieren von der Form, die diese Romantiker und Renaissancler wählten. Und Plessi zeichnet. Durchaus mit sicherem Strich, wirklich mit selbstbewusstem Farbauftrag, richtig mit gut durchdachter Komposition und einem durchschreitenden Gefühl für den Raum, macht er diese Zeichnungen, nach denen seine Gehilfen beginnen zu recherchieren und dann zu bauen. Es bleibt die Frage nach dem Original? Es bleibt die Frage nach dem Original. Plessi zeichnet das Original. Nein er zeichnet die Bilder vom Original. Die wirklichen Originale, das sind immer noch die Ideen, die Plessi hinter den Zeichnungen geborgen hat. Und genau da schlummert auch dieser mein heiliger Rausch von Weiblichkeit. Genau da liegt dieses alles betörende Ur- Raunen, das Plessi verströmt. Er raunt von den Elementen, die all seinen Arbeiten zu Grunde liegen, und die aus der Welt selbst kommen. Die da sind, weil sie sind, sie „welten“ vielleicht mit Heidegger. Und diesen Elementen der Welt verschafft Plessi Monitore. Denn die Elektronik in den Medien, mit denen er arbeitet, ist für ihn die Hitze des Feuers, man kann sie mit den Händen fühlen. Die Informationen, die durch sie hindurch fließen, sind das Wasser, das er natürlich als Transportmittel und auch Transportsubjekt gleichzeitig begreift (nicht umsonst ist er Venezianer). Über den Bildschirm werden diese Inhalte in die Welt transportiert und für die Zuschauer sichtbar gemacht, und flirrt die Luft. Die Erde liegt meistens im Werk selbst, die Monitore sind von Stein umgeben, oder von Holz oder von Metall. Die Medien sollen gelebt werden und belebt und beseelt. Seele. Großes Wort für Plessi. Plessi schafft über eine traumvolle aber weltbezogene Innerlichkeit ein Raum des Dazwischen, der schimmert und glitzert und voll von Rilkischer Romantik ist. Dieses Dazwischen, das entsteht durch die Gleichzeitigkeiten im Bild. Das Bild, das Plessi schafft, steht für sich und hat diese „weltenden“ Bezüge und zwar gleichzeitig: Erstens zu unserem Mensch-sein, (einem quasi Urseelenzustand) und zweitens zu unseren digitalen, medialen und entpersonalisierten Realitäten.


Beleg des Zustands durch nicht wissenschaftliche Empirie:
Und das macht an! Ja! Und während ich auf der Suche bin nach einer kleinen Bar für einen kleinen Kaffee, da sehe ich plötzlich den Himmel aus rosa orange, blau und lila in einem kleinen Streifen über den Dächern und auf den Häuserfassaden schiebt sich ein so sanftes Licht entlang. Und ich bin ganz verzückt und möchte vielleicht eine kleine Religion gründen, und dann schunkelt auch wirklich noch eine winzige weiße Feder von oben herab!

Empfundene Gemütsregung:
Scheiße!


Schlussfolgerung aus Gefühl von Machtlosigkeit, der Kraft des Zustands gegenüber, und Idee:

Und ich denke: Das einzige, was wirklich Sinn macht in Venedig ist schwanger zu sein und seine eigene intrinsische Zwischenmenschlichkeit zu haben, sonst hält man es nicht aus, sonst wird man depressiv, sonst geht das hier nicht. Und dann ist es mir klar geworden:

Ansichten eines dialektischen Hirns:
Plessi leidet unter Uterusneid. Der Mann! Die Seele, die Welt, die Elemente, dieses Sehnen nach einer fließenden Teilhabe am Werden! Das Sträuben gegen das Medium ist die Message, ganz klar, er kann ja nie selbst Medium für die Message sein! Unmengen von Zeichnungen, wenigstens Ausgeburten seines Hirns, die sich manifestieren, ach Plessi, ach Plessi. Ich meine das nicht ironisch! Ich psychologisiere hier vor mich hin und dann wird mir natürlich auch klar, wieso mich das so aggressiv macht, denn es gilt meinen fraulichen Vorzug zu bewahren! Jawohl! Das was im 19. Jahrhundert Freuds wohl gefeierter Penisneid war, das hat sich verkehrt. Im 21. Jahrhundert leiden die Männer unter Uterusneid. Oder lieber Placenta-Neid? Auch schön wäre Ovulationsneid, oder etwas wissenschaftlicher: Envirismus hysteriae. Wunderschön! Ist das der „Verdienst“ der Emanzipation? Wäre das schlimm? (Klar!) Ist das erforscht? Was bedeutet das für die Kunst? Man darf die Kunst nicht psychologisieren. Dann ist sie nicht mehr frei. Wer hätte nicht gerne ein gebärfreudiges Becken?

Fehlplatzierte, doch sachlich richtige Selbstanalyse:
Ich glaube ich werde hysterisch und muss aufpassen


Bipolare Darlegungsstrategie und Deskription Sündenbock II:
Außerdem klopft Bellini leise an. Bellini ist ja eigentlich auch nicht besser und erwischt mich auf genau dieser Schiene, wie Plessi es tut. Bei meinen ersten Vergleichen ging es mir um die Innerlichkeit der Arbeiten. Aber mir war nicht klar, dass es um solch konkrete Innerlichkeiten gehen könnte. Ich wollte doch auf das bildinnere Dazwischen rekurrieren, auf den Goldgrund, der die Beziehungen zwischen den Menschen schon in ein unstoffliches, aber doch verbindendes Element taucht. Das ist das, was mein Hirn begeistert, dass Bellini es schafft, eine solche Heiligkeit darzustellen, dass wir so eintauchen können, in die menschliche Tatsächlichkeit von gelebter Religion. Hier geht es nicht um caritative Zwecke und es geht nicht um fromme Betschulen, sondern es geht um das, was zwischen den Menschen wirklich passiert. Bellini wählt häufig das Bild der Maria mit ihrem Sohn. Und in ihren Blicken geht es immer um das Leben und das Sterben. Maria weiß in den Bildern mit dem Christuskind um den zu frühen Tod ihres Sohnes. Und als Pietá weiß sie dennoch um das „Weiter!“ in all der Trauer, deshalb kann sie ihn noch halten. Und das ist genau das, was Plessi mit seinen Elementen tut. Beide Künstler packen mich bei den Urelementen und -trieben ich finde das unverschämt und indiskret, obwohl ich dieses Gefühl süß genieße und darin schwelgend durch Venedigs Gassen gehe.

Pathologischer Zustand:
Die sich träge in mir räkelnde und ausdehnende Pflanze von kitschiger Heiligkeit wird langsam aggressiv. Ich muss hier weg! Wieso ist denn das alles so schön hier? Wo soll ich nur hin damit? Bitteschön? Plessi sprach von Venedig als einem Käfig. Recht hat er, aber abends bin ich müde.









Ich finde meinen Text noch sehr unzusammenhängend und zu lang und nicht deutlich genug. Aber es ist die erste stehende Fassung, vielleicht kann man aus ihr entnehmen, wie ich die Form wählen wollte. Aber ich komme in sie irgendwie nicht rein.
Der Film ist glaube ich zu groß, ich krieg ihn jedenfalls nicht hochgeladen. Weiß jemand, wie man sowas komprimiert? Geht das für den Blog?


Ich muss Dir schnell zurück schreiben, habe noch nicht einmal die Zeilen frei, Dir für Deinen langen Brief zu danken, denn es muss irgendwo hin heraus, weg aus all der Empfindlichkeit und Empfänglichkeit in mir. Dort wächst es und gebiert eine kitschige Pflanze sich nach allem, was auch nur einen Hauch von Zauber trägt, reckend und es in Liebe verwandelnd! Ich liebe hier alles, will Kinder machen und sie groß ziehen! Jawohl! Ich will sie in meinen Armen wiegen und ihnen mein Hirn vermachen. Ich will hinein in einen hortus conclusus, meinen eigenen ganz persönlichen, ich will dort hocken und vielleicht eine Blume pflücken mit sehr spitzen Fingern, und will eingelegt sein in weiche, zarte Stoffe! Und ich will lieben! Lasst mich lieben! Ich will die ganze Welt bemuttern! Lass mich einen Schleier tragen, wegen all meiner Unschuld und lass mich lieblich drein schauen und lass mich gut geerdete Mütterlichkeit sein, Weiblichkeit sein, die alles weiß und alles kann, aber nicht braucht, weil sie ist ja schon so sanft und sie ist ja schon so zart! Oh ja, widerlich!
Eva Hermann wäre stolz auf mich. Du weißt, das bringt mich um. Ich bin ja sonst auch nicht eben gerade ein Fight-Club- Rowdy und sonst auch eher weich als krass, aber so schlimm wie hier war ich noch nie.

Aber ich denke, es gibt Trost, zum Glück. Schuld nämlich an diesem peinlichen Zustand sind: Giovanni Bellini und Fabrizio Plessi. Beides Menschen aus ganz verschiedenen Ecken der Geschichte, Bellini aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er malte. Schuf lebensgroße Madonnen und leidende Söhne Gottes mit Öl auf Leinwand. Plessi lebt noch heute und baut Skulpturen aus Monitoren in Metall, Holz oder Stein. Diese lässt er um die Welt schiffen und stellt sie aus in Bangkok, Paris, New York, Berlin, Rom und in tausend anderen Städten. Er unterhält, wie die alten Meister, eine eigene Werkstatt, in der eine ganze Riege von Menschen an der Umsetzung seiner Ideen arbeiten. Beide diese Männer haben den Reichtum Venedigs mit den routinierten Blicken von Einwohnern kennen gelernt. Zwar in völlig verschiedenen Jahrhunderten, aber doch mit all den Konsequenzen. Und beide ergehen sich so sehr in all dem seelenvollen Schwanken der Kanäle, Plessi in dezidiertem Bezug und Bellini so nebenbei in den Blicken seiner Figuren, in der Art und Weise, wie sie sich an Händen halten und wie sie Bezug aufeinander nehmen.


Und Plessi, den wir trafen, und der fernab von Öl und Leinwand arbeitet, behauptet, das tue er nur nicht, weil er es sowieso könne. Besser als Tizian und besser als Bellini. Und weil er sie alle in ihrer Form sowieso in die Tasche stecken könne, die Romantik eines Caspar David Friedrichs aber in seinem Herzen verstanden habe, könne er sich emanzipieren von der Form, die diese wählten. Und Plessi zeichnet. Wirklich mit sicherem Strich, wirklich mit selbstbewusstem Farbauftrag, wirklich mit gut durchdachter Komposition und einem durchschreitenden Gefühl für den Raum, macht er diese Zeichnungen, nach denen seine Gehilfen beginnen zu recherchieren und dann zu bauen. Das Original, weißt Du noch, als wir in der Bar saßen und ich viel rauchte und zwar Deine Zigaretten, da sprachen wir darüber? Über die Frage nach dem Original? Da hast Du gesagt, ein Original, das müsse es geben, sonst sei es keine Kunst, sondern nur Kopie und das sei Dein Problem mit der modernen Kunst? Plessi zeichnet die Originale, wenn Du so willst. Aber eigentlich stimmt das noch nicht. Die wirklichen Originale, das sind immer noch die Ideen, die Plessi hinter den Zeichnungen geborgen hat. Und genau da schlummert auch dieser mein heiliger Rausch von Weiblichkeit. Genau da liegt dieses alles betörende Ur- Raunen, das Plessi verströmt. Er raunt von den Elementen, die all seinen Arbeiten zu Grunde liegen, und die aus der Welt selbst kommen. Die da sind, weil sie sind, sie „welten“ vielleicht mit Heidegger. Und diesen Elementen der Welt verschafft Plessi Monitore. Denn die Elektronik in den Medien, mit denen er arbeitet, ist für ihn die Hitze des Feuers, man kann sie mit den Händen fühlen. Die Informationen, die durch sie hindurch fließen, sind das Wasser, das er natürlich als Transportmittel und auch Transportsubjekt gleichzeitig begreift (nicht umsonst ist er Venezianer). Über den Bildschirm werden diese Inhalte in die Welt transportiert und für die Zuschauer sichtbar gemacht, und da hast Du die Luft. Die Erde liegt meistens im Werk selbst, die Monitore sind von Stein umgeben, oder von Holz oder von Metall. Und kulturvoll möge man mit den neuen Medien umgehen, man darf sie nicht verbrauchen, nicht sinnlos. Sie sollen gelebt werden und belebt und beseelt. Seele. Großes Wort für Plessi. Plessi schafft über eine traumvolle aber weltbezogene Innerlichkeit ein Raum des Dazwischen, der schimmert und glitzert und voll von Rilkischer Romantik ist. Dieses Dazwischen, das entsteht durch die Gleichzeitigkeiten im Bild. Das Bild, das Plessi schafft, steht für sich und hat diese „weltenden“ Bezüge und zwar gleichzeitig: Erstens zu unserem Mensch-sein, (einem quasi Urseelenzustand) und zweitens zu unseren digitalen, medialen und entpersonalisierten Realitäten.

Und das macht an! Ja! Und während ich auf der Suche bin nach einer kleinen Bar für einen kleinen Kaffee, da sehe ich plötzlich den Himmel aus rosa orange, blau und lila in einem kleinen Streifen über den Dächern und auf den Häuserfassaden schiebt sich ein so sanftes Licht entlang. Und ich bin ganz verzückt und möchte vielleicht eine kleine Religion gründen, und dann schunkelt auch noch eine kleine weiße flauschige Feder von oben herab! Scheiße! Und ich denke: Das einzige, was wirklich Sinn macht in Venedig ist schwanger zu sein und seine eigene intrinsische Zwischenmenschlichkeit zu haben, sonst hält man es nicht aus, sonst wird man depressiv, sonst geht das hier nicht. Und dann ist es mir klar geworden: Plessi leidet unter Uterusneid! Der arme Mann! Die Seele, die Welt, die Elemente, dieses Sehnen nach einer fließenden Teilhabe am Werden! Das Sträuben gegen das Medium ist die Message, ganz klar, er kann ja nie selbst Medium für die Message sein! Unmengen von Zeichnungen, wenigstens Ausgeburten seines Hirns, die sich manifestieren, ach Plessi, ach Plessi. Ich meine das nicht ironisch! Ich psychologisiere hier vor mich hin und dann wird mir natürlich auch klar, wieso mich das so aggressiv macht, denn es gilt meinen fraulichen Vorzug zu bewahren! Jawohl! Das was im 19. Jahrhundert Freuds wohl gefeierter Penisneid war, das hat sich verkehrt. Im 21. Jahrhundert leiden die Männer unter Uterusneid. Oder lieber Placenta-Neid? Auch schön wäre Ovulationsneid, oder etwas wissenschaftlicher: Envirismus hysteriae. Wunderschön! Ist das der „Verdienst“ der Emanzipation? Wäre das schlimm? (Klar!) Ist das erforscht? Was bedeutet das für die Kunst? Man darf die Kunst nicht psychologisieren. Dann ist sie nicht mehr frei. Hättest Du auch gerne ein gebärfreudiges Becken? Ich glaube ich werde hysterisch und muss aufpassen, außerdem klopft Bellini leise an.

Bellini ist ja eigentlich auch nicht besser und erwischt mich auf genau dieser Schiene, wie Plessi es tut. Bei meinen ersten Vergleichen ging es mir um die Innerlichkeit der Arbeiten. Aber mir war nicht klar, dass es um solch konkrete Innerlichkeiten gehen könnte. Ich wollte doch auf das bildinnere Dazwischen rekurrieren, auf den Goldgrund, der die Beziehungen zwischen den Menschen schon in ein unstoffliches, aber doch verbindendes Element taucht. Das ist das, was mein Hirn begeistert, dass Bellini es schafft eine solche Heiligkeit darzustellen, dass wir so eintauchen können, in die menschliche Tatsächlichkeit von gelebter Religion. Sehr fern das Ganze. Hier geht es nicht um caritative Zwecke und es geht nicht um fromme Betschulen, sondern es geht um das was zwischen den Menschen wirklich passiert. Bellini wählt häufig das Bild der Maria mit ihrem Sohn. Und in ihren Blicken geht es immer um das Leben und das Sterben. Maria weiß in den Bildern mit dem Christuskind um den zu frühen Tod ihres Sohnes. Und als Pietá weiß sie dennoch um das „Weiter!“ in all der Trauer, deshalb kann sie ihn noch halten. Und das ist genau das, was Plessi mit seinen Elementen tut. Beide Künstler packen mich bei den Urelementen und -trieben ich finde das unverschämt und indiskret, obwohl ich dieses Gefühl süß genieße und darin schwelgend durch Venedigs Gassen gehe.


Die sich träge in mir räkelnde und ausdehnende Pflanze von kitschiger Heiligkeit wird langsam aggressiv. Ich muss hier weg! Wieso ist denn das alles so schön hier? Wo soll ich denn hin damit? Bitteschön? Plessi sprach von Venedig als einem Käfig. Recht hat er, aber abends bin ich müde.

Ich freue mich auf den Flieger zurück zu Dir. Ich bringe Dir Bilder mit und Stoffe. Und vielleicht ein bisschen Goldstaub aus dem Schmelztiegel meines Kitsches. Holst Du mich ab, wenn ich komme?

Freitag, 13. Juni 2008

Recherche/Jacob Burckhardt/Nora Neuhaus

Jacob Burckhardt – Kurzvorstellung
(25. Mai 1818 – 8. August 1897), Schweizer Historiker und Kunsthistoriker

Studium der Theologie, Geschichte und Philosophie und des neu entstandenen Fachs Kunstgeschichte in Berlin und Bonn, sein „Mentor“ war der Kunstwissenschaftler Franz Kugler.
Burckhardt ist v. a. als Kulturhistoriker berühmt, er war aber auch einer der ersten Kunsthistoriker. Burckhardt hatte 1855 den ersten Lehrstuhl für Kunstgeschichte in der Schweiz inne, er unterrichtete an der ETH Zürich und an der Universität Basel. Burckhardt schrieb und lehrte immer auch für eine allgemein gebildete interessierte Öffentlichkeit.
Seine Arbeiten spiegeln die intensive Erfahrung seiner eigenen Zeit, die vom Aufstieg der Industriellen Gesellschaft, von Sozialdemokratie und aggressivem Nationalismus geprägt war.
Ideengeschichte
Zu Beginn seiner Karriere war Burckhardt noch ein deutscher Nationalist und Mittelalter-Spezialist.
Burckhardt forschte allerdings nach den Charakteristika der Kunstepochen und der Frage, wie sich über besondere Stile und Formen Schlüsselinhalte der jeweiligen Kulturen ausdrücken, anstelle der allgemein üblichen Auffassung einer historischen Fortschrittsgeschichte der Kunst zu folgen.
Genuss als Erfahrung von Ordnung und Harmonie durch Kunst ist ein Zentralbegriff in Burckhardts Schriften. Durch diese Erfahrung vermittelten sich für ihn höchste humanistische Bildung und moralische Werte.
Burckhardt verfasste 1842 das erste kunsthistorische Werk -„Die Kunstwerke der Belgischen Städte“ und wendete sich von der romantischen Kunstauffassung ab, die die Griechische und die deutsche Kunst des Mittelalters zum klassischen Vorbild der perfekten Harmonie erklärten, und die Römische und Italienische Kunst für minderwertig oder zweitrangig ansahen.
Jacob Burckhardt trat für die einzigartige säkulare Weltauffassung der Renaissance ein, aus der er einen neuen Sinn für die konkrete Realität, ein neues individuelles künstlerisches Bewusstsein und eine progressive Autonomie der Kunst ableitete. Michelangelo war für Burckhardt der Prototyp des modernen Künstlers, aber auch Tintoretto, Correggio, und Rembrandt schrieb er das „Empörende“, eine besondere Energie zu, die selbst den Rahmen der Renaissance- Kunst sprengte. Die Künstler stellen nicht mehr subjektives Thema dar, sondern die Subjektivität des Künstlers selbst, die Probleme seiner Kunst werden zum Thema.
Burckhardt bewunderte auch seinen Zeitgenossen Arnold Böcklin und besonders Peter Paul Rubens für ihre Fähigkeit, ihre eigenen Dämonen ins Bild zu setzen.
1855 wurde „Der Cicerone – eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ veröffentlicht, der eine grundlegende Neubewertung und Rehabilitierung der Renaissance-Kunst auslöste.
Burckhardt zeigte die Entstehung der Italienischen Kunst aus der Tradition der Spätantike. Die „eigentliche Renaissance“ war für ihn das Produkt einer fruchtbaren Spannung zwischen neuen spontanen kreativen Energien und dem Erbe der klassischen Antike. 1500-1540 bezeichnete er als das „Goldene Zeitalter“ der Renaissance.
Burckhardt deutete den Begriff „klassisch“ nicht mehr als organischen, originalen Ausdruck eines Zeitgeistes sondern als kreative Nutzung von geborgten Formen. Das klassische Kunstwerk sah er als ein Produkt individueller Imagination, die nur von bestimmten kulturellen Traditionen reguliert wird. Die„ Geschichte der neueren Baukunst“
und eines seiner berühmtesten Bücher, „Die Kultur der Renaissance in Italien“entstehen.
Die Form ist nach Jacob Burckhardt der Ort der Bedeutung in der Kunst. Wenn man die Kunstgeschichte als selbstständige Disziplin gegenüber der Kulturgeschichte behandeln möchte, müsse man vom „Schönen“ selbst ausgehen und nicht von der Geschichte, sondern diese nur als Quelle nutzen.
Geschichte erkläre Kunst nicht, sondern sei als Politik genauso Teil der Kultur wie die Kunst.
Die Stilgeschichte soll den Ausdrucksformen des Schönen in der Kunst folgen.
Die Annäherung an ein Kunstwerk soll „nach Aufgaben“ geschehen. Außerdem bildete Burckhardt die Kategorien „Organischer Stil“ und „Räumlicher Stil“.
Burckhardt selbst folgte seinen beiden Interessen als Kunsthistoriker und als Kulturhistoriker getrennt.
Jacob Burckhardt bewirkte mit seiner Bewunderung für Energie und Erfindungsreichtum anstelle eines aus der Klassischen Kunst etablierten Gleichgewichts die Rehabilitation der späteren Stadien einer Kunstepoche, wie der Spätantike und des Barock.
In der Fragmentierung und dem Niedergang der Tradition in seiner Zeit sah er erweiterte Rezeptionsmöglichkeiten für die Kunststile und letzten Endes auch die Bedingung der Entstehung der Kunstgeschichte als Disziplin selbst.
Burckhardt war auch Zeichner und hinterließ Skizzenbücher, die als Dokumente der Betrachtungsweise eines reisenden Kunsthistorikers aufschlussreich sein können.

Bibliographie Schriften Jacob Burckhard:

- Die Kunstwerke der belgischen Städte, Düsseldorf,1842
- Die Zeit Konstantins des Großen, Basel, 1853
- Der Cicerone: Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens,Basel,1855
- Die Kultur der Renaissance in Italien, Basel, 1860
- Geschichte der neueren Baukunst, Stuttgart, 1867; als Geschichte der Renaissance in Italien, Stuttgart, 1878
- Erinnerungen an Rubens, Basel, 1898
- Griechische Kulturgeschichte, Berlin und Stuttgart, 1898 – 1902
- Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin und Stuttgart, 1905
- E. Durr u. a., Hrsg.: Gesamtausgabe in 14 Bden, Stuttgart, Leipzig und Berlin, 1929-34
- M. Burckhardt, Hrsg.: , Briefe in10 Bden, Basel, 1949 – 86
- H. Ritter, Hrsg.: Die Kunst der Betrachtung: Aufsätze und Vorträge zur Bildenden Kunst, Köln, 1984
- Y. Boerlin – Brodbeck: Die Skizzenbücher Jacob Burckhardts, Basel 1994
- Basel, StA Basel Stadt, J. B. - Stiftung: Nachlass (u. a. 9 Skizzenbücher)


Quellen:
- Lionel Gossman: “Burckhardt, Jacob (Christoph)”, in: The Dictionary of Art (in thirty-four volumes), hrsg. von Jane Turner, New York: Macmillan [u.a.] 1996, Bd. 5, S.188 - 190
- “Burckhardt, Jacob Christoph”, in: Lexikon der Kunst: Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, hrsg. von Harald Olbrich u. a., Leipzig: Seemann, 1987, Bd.1, S. 185

Literatur zu Venedig und Venezianischer Kunst in den Schriften Jacob Burckhardts

1. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, 2. Aufl., Basel: Benno Schwabe & Co Verlag, 1869
darin:
Erster Abschnitt: Der Staat als Kunstwerk, Die Republiken, Venedig im 15. Jahrhundert (Bd.1, S. 41 – 49)
>Text zu Venedig als Staat, Struktur, Eigenheiten, Geschichte; kulturhistorisch-erzählerisch geschrieben

2.Jacob Burckhardt: Der Cicerone: Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, 1. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, 2. Aufl., Basel: Benno Schwabe & Co Verlag, 1869
darin :
zur Malerei:
-Malerei des 15. Jahrhunderts – Die neue Auffassung (S.174 – 178) >allgemein zur Malerei des 15. Jahrhunderts auch in Venedig
-Selbständige Venezianer in der Malerei des 15. Jhdts. (S. 198 – 205) > über die Künstlerfamilien Bellini, Vivarini, Giovanni Bellini, aber auch Carpaccio u. a.
-Malerei des 16. Jahrhunderts – Venedig(S. 312 – 337) > u.a. zu Giorgione, Lorenzo Lotto, Tizian, Tintoretto, Veronese, Dogenpalast

Einstürzende Gebäude/Katharina Stockmann/Entwurf

Re:konstruktion eines Turms: Der Campanile von San Marco in Venedig

Den Bildern unserer letzten Nummer, die den Zustand vor dem Einsturz des Turmes zeigen, lassen wir heute ein solches folgen, das unmittelbar nach der Katastrophe aufgenommen wurde. Was dabei wohl am meisten auffällt, ist der verhältnismäßig kleine Schuttkegel, der durch den gewaltigen eingestürzten Bau gebildet wurde. Die enggezogenen Grenzen der Zerstörung zeigen, dass der Turm in des Wortes strengster Bedeutung in sich selbst zusammengestürzt ist.

An der südöstlichen Ecke der Piazza di San Marco, dort wo sie an die kleinere Piazzetta stößt, bildet sich jeden Tag ab halb neun eine Schlange. Schließlich lassen sich nur wenige Venedig-Besucher das Erlebnis entgehen, für acht Euro zur Aussichtsplattform des Markusturms hinaufzufahren. Aus den Arkaden des Glockenstuhls heraus haben sie einen weiten Blick über die Stadt und die Lagune bis zu den Industriegebieten von Mestre. Sie können sich sicher fühlen, schließlich befinden sich unter ihren Füßen 50 Meter solides Ziegelmauerwerk, dass nur durch winzige Fenster durchbrochen wird und dessen einziger Schmuck breite Wandpfeiler an allen Seiten sind. Ein fünf Meter großer goldener Engel wacht über ihren Köpfen – ganz oben an der Spitze des kupfergrünen Pyramidendachs. 

Der Einsturz erfolgte Montags den 14. d. M., vormittags vor 10 Uhr. Der Platz war vorher abgesperrt worden, da ein großer Riss am Turme sichtbar geworden war. Gleichsam das Signal zum Zusammenbruch gab der Absturz eines großen Steinblockes von der Nordostecke des Turmes; er schmetterte auf die Logetta nieder. Dann stürzte der Turm langsam in sich zusammen, entsprechend den Regeln der Statik und Dynamik, die die Herren Theoretiker bei der Niederlegung von hohen Türmen und Kaminen aufgestellt haben und worüber sich auch in unserer Zeitschrift wertvolle Aufschlüsse finden.

Wer in Venedig bauen will, muss einige Regeln beachten: Damit die Pfähle, auf denen die Grundmauern stehen, nicht zu tief in den Boden einsinken, muss die Konstruktion so leicht wie möglich sein. Das Gewicht sollte gleichmäßig auf die Fundamente verteilt werden, sonst kommt es zu einer einseitigen Absenkung und damit zur Schieflage des Gebäudes.
Ein Turm erfüllt keine dieser Vorgaben. Dennoch wurden im Jahr 888 über 100.000 Holzpfähle in den Mergelboden unter der Lagune getrieben um darauf einen Campanile zu bauen. Im Jahre 1517 war der Markusturm 98,6 Meter hoch, höher als alle anderen Gebäude der Stadt. Und tatsächlich wich er in den nächsten 400 Jahren um kein Grad von der Senkrechten ab. Nicht sichtbar waren dagegen die langsame Verschiebung des Erdreichs, der Druck auf die Fundamente, die Spannungen im Mauerwerk und die wachsende Porosität der Tonziegel.

Allen, die Venedig kennen, wird die Kunde von dem unerwarteten Einsturz des mächtigen Glockenturms von San Marco schmerzliche Gefühle erweckt haben. Denn Venedig ohne den Campanile von San Marco ist nicht mehr Venedig.

Während die Menschen noch staunend auf dem Trümmerhaufen am Rand der Piazza herumkletterten, stand der Beschluss bereits fest: Die Ziegel, die sich jetzt noch zu einer amorphen Masse auftürmten sollten sortiert, gezählt und nummeriert werden, Architekten kramten die alten Baupläne aus den Archiven und hohe Spenden aus dem Ausland gingen ein.
Der Markusturm von Venedig sollte wieder aufgebaut werden – com’era, dov’era: Wie er war und wo er war.

Warum kein Venedig ohne Campanile?

Wer sich nicht gerade vorgenommen hat, den Campanile zu fotografieren oder seine Aussichtsplattform zu besuchen, wird auf der Piazza di San Marco an ihm vorbeilaufen. Hoch aufstrebend, breit und massig wie er ist, übersehen ihn die Menschen, weil ihre Augen vom Rhythmus der Fassaden fort getragen werden, um sich in den Kuppeln und Zinnen der Markuskirche zu verlieren.
Was wäre der Platz ohne den Turm? Würde seine Einheit zerbrechen, seine Bögen, Säulen und Pilaster abrutschen wie Perlen von einer gerissenen Kette? Würde er zu einer nichts sagenden Ansammlung ehemaliger Verwaltungsgebäude und Renaissance-Plattenbauten abflachen? Oder wäre er einfach alltäglicher, heller und offener als zuvor?
Ihren Tag organisieren die Venezianer schon lange, ohne dass die Glocken von San Marco ihnen die Uhrzeit, den Feierabend oder Ratsversammlungen anzeigen müssen. Heute fügt sich das Geläut perfekt in den täglichen Venedig-Klangteppich ein und dringt kaum noch ins Bewusstsein.
Auch als Bezugspunkt in der Stadt enttäuscht der Campanile. Touristen, die mit einem Orientierungsbild aus den Medien nach Venedig kommen, müssen feststellen, dass der Turm in den engen Gassen der Stadt nicht einmal kurz vor dem Markusplatz zu sehen ist. Trotz des unbehaglichen Gefühls, eigentlich über Umwege geschickt zu werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den gelben Schildern über ihren Köpfen „per San Marco“ zu folgen.
Auch die Kreuzfahrtdampfer, die sich durch den Canale de Giudecca schieben, brauchen den Turm nicht mehr zur Navigation. Längst musste er seine Herrschaft über die Adria an Aida das Clubschiff abgeben.
Warum also der Wiederaufbau des Campanile com’era, dov’era? Wer braucht ihn noch und warum? Und was würde passieren, wenn er wieder einstürzt?

Was ist los mit Venedig? Die „Wahrnehmung zweiten Grades“

18:00: Austausch und Pause im Garten/Kreuzgang von Don Orione: Zehn Minuten für eure ersten Eindrücke von Venedig:
Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Stadt, das ist klar. Venedig kriegen wir nicht auseinandergefaltet, wir fahren den Canal Grande entlang und wissen: wie das Leben auch sei - so jedenfalls kann es nicht sein. Und trotzdem haben wir das doch alles schon einmal gesehen, sind wir hier überall schon einmal gewesen.
Durch die Stadt zu gehen, und auf Bekanntes zu treffen macht zufrieden und schläfrig, und doch ist leichte Panik ständig dabei. Die Angst, nicht entkommen zu können, gegen Kirchenmauern zu rennen, wie gegen Gummiwände und an den Palastfassaden abzurutschen.
Was ist los mit Venedig, warum ist es so schwer, diese Stadt zu begreifen?



These: Die Gestalt der Stadt Venedig reproduziert sich aus Bildern
Wiederaufbau des Campanile: Venedig wird den Bildern von Venedig angepasst. Die Bilder übernehmen die Oberhand.



Venedig, ein Museum, Ojektivierungsversuch, Juliane Link

Venedig, ein Museum

Museum ist altgriechisch, das Heiligtum der Musen.
Venedig ist ein Heiligtum der Musen und der apostolischen Gebeine.
Auch ein Tempel der schönen Künste, denn alles Venezianische ist schön und Kunst, versteht sich. Ein Freizeitpark für Romantiker aller Herrenländer, die kommen der Allerdurchlauchtigsten zu huldigen. Ein Freilichtmuseum, in dem Touristen Tauben füttern, über Kanäle schippern und Schlange stehen für Waffeleis.

Ein Museum ist ein Ort, an dem etwas bewahrt und erhalten werden soll. Im Fall Venedigs handelt es sich dabei um eine ganze Stadt, die Zeit läuft, der Putz bröckelt, die Flut steigt. Und was wäre Venedig ohne Konservierungsstoffe?

Ein Museum empfängt Besucher, täglich außer montags oder dienstags. Auch Venedig empfängt Besucher, täglich auch montags und dienstags.
.
Ein Museum ist ein Ort, der eine Brücke schlägt von der Vergangenheit zur Gegenwart oder umgekehrt. Auch Venedig schlägt Brücken, aber nur zu sich selbst.

Ein Museum ist in aller Regel der Tradition mehr verbunden als der der Veränderung.
Und Venedig? Gibt es Veränderung in Venedig? Gibt es ein Venedig, das ohne Vergangenheit auskommt? Oder gibt es Venedig immer nur im Bezug auf eine frühere Version seiner selbst?

In einem Museum befinden sich Dinge, die sich mehr oder weniger ähnlich sind, meistens mehr. Auch in Venedig befinden sich Gebäude, die sich mehr oder weniger ähnlich sind, meistens noch mehr.

Ein Museum kostet Eintritt, wenn es etwas auf sich hält. Auch Venedig kostet Eintritt und zwar bei jeder Gelegenheit, also zahlt man mehrmals. In Venedig wiederholen sich die Dinge.

Ein Museum ist entweder geöffnet oder geschlossen. Venedig ist beides zugleich.

Im Museum kann man sich am Ausgang Postkarten kaufen. In Venedig gibt es keinen Ausgang, aber Postkarten gibt es überall.

In einem Museum bestehen Hierarchien. Es gibt einen Direktor, einen Kurator, einen Restaurator und Putzfrauen. Auch in Venedig bestehen Hierarchien: Es gibt Privatpersonen mit sehr viel Geld und eigenem Palast, hinter den Supermarktkassen Frauen mit Namenschildchen, auf denen „Elisabeta“ und „Maria“ steht und nahe der Brücken illegale Einwanderer mit falschen Gucci-Handtaschen auf Plastikplanen.

In einem Museum werden Führungen angeboten, für Venedig Rundfahrten empfohlen.

Jedes Museum hat seine Mona Lisa. Venedig hat es noch besser. Venedig hat San Marco.

Donnerstag, 12. Juni 2008

230608 / Venice Cards / Nora Wicke / (aktualisiert+ergänzt)

Venice Cards


1 Flughafen – Bus – Piazzale Roma / Donnerstag

Die Vororte wie immer wären mir lieber
Leben gegen künstliches Reise fühlt
Sehnsuchtsbilder
SWEPT OUT SPACE
Meer the lonely one einzigst
Glasfenster weißes Boot und gestreifte sich wölbende
Markisen über getupften Blütenbalkonen
saved Venice einen moment lang EY WIR SIND ÜBER DEN ALPEN stone by stone
herangeschwappt


2 Samstag 31. Mai Accademia
aus längst verrissenen vergessenen Tagen paradiespopfarben tortenförmig
hoch oben da ist der Kulturhimmel unterm Arm der Dumontreiseführer im Ohr die elektronischen Beats verfolgt durch Rentnergruppen vollgestopft mit bunten Engeln laufen wir gemeinsam marathonartig den Weg zum klassischen Kanon like a Virgin ohne Handtasche der bekiffte Kurt Cobain Engel weiß um die Sympathie die er sich einholt von vierzig müden Augen ein tiefes blau mit Sternen besetzt Maria in the Sky with Diamonds gehen die Lichter an in Kuppeln auf fürs Kleinkind fünfzig Adventskalendertürchen für jeden Tag eines dahinter ist es immer – jenseits des Großstadtdrecks weit weg von – güld geld gelb orange gilt gold glitz


3
faltige gebräunte Haut Dauerwellen Blumenflächen auf der Bluse und extem rosa das T-Shirt der englischsprachigen Freundin die mitten im Palast Kassettendecke mit Rosetten Fotos von sich gegenseitig hinter venizianischem Rot und unter über der dritten oder vierten Phase von Tizian gehen sie einmal so dicht wie möglich heran alle gleichzeitig in die lyrische arkadische Landschaft hinein gehen sie doch einmal so dicht wie möglich dichter welche Bildwirklichkeit//
der Morgen in Venedig hingegen beginnt etwa 7 Uhr mit dem Öffnen der Fensterläden dem Rauschen von Motoren den ersten Bewegungen von Menschen unter weißen Laken rascheln Vögel im Garten und kurzes gras neben fließendem Wasser im Hof dem Blick auf pastellfarbene Ziegel und einem vierzackigem Stern auf dem Dach der Kirche die blechern fast ihre Glocken schwingt // zwischen Spitzbögen Schleifen Stuckverzierung steigt der Doge mit einem Prachtzug die goldene Treppe hinauf und begrüßt seine ausländischen Gäste vor einer Sonnenuhr auf die keine Sonne fällt / der Aufseher bittet eindringlich um Ruhe / er murmelt die Linien könnten das Bild stabilisieren

6 Accademia Samsag
Hier drin denke ich draußen sei das Wetter schlechter geworden grauer kühler dabei wäre ein offenes Fenster der Gegenbeweis sie können es ein wenig erahnen / innen Museum außen Kulisse flache Häuserdächer in vier Pinselstrichen falschgesetzte Füße / der einfliegende Markus stürzt Sturzflug Gegenbewegung der Gruppe Dynamik von links oben bis in den Keller unten Menschen mit Plänen vor den Augen vor den Bildern weiße Sandalen rote Lackschuhe braune Sandalen Lederriemchen Flipflopsflipflops floppt wenn sie herantreten rote Turnschuhe Wildleder geriffelte weiße Schuhe zur geriffelten rosa Hose gestaffelter Raum in einem Bild das sich vor meinen Augen entlang rollt ein offenes Fenster der Gegenbeweis das Brummen der Bootsmotoren liegt immer drunter


7 Abend
manchmal wenn die Luft es erlaubt Möwengewisper
Venedig du bist zwischen die Fronten geraten wolkenschwer vergittert ausweglos und gefüttert bis zum Anschlag / in dir ist es egal wie viel man schläft oder nicht schläft die Stunden im Körper nicht fühlbar aber der Blick wie der Kronleuchter in viele kleine Teile zerfällt und gleichzeitig die geschichtsträchtige Palastmalerei in den flüssigen Smaragdstraßen verläuft / sich kleine liebenswürdige Hunde darum reißen einem Kellner mit einer frischangezündeten Zigarette hinterher zujagen der auf wohlklingenden Absätzen den Platz überquert / wenn das Licht angeht wird das Wasser schwarz
die zweite Etappe: warten auf den einen anderen Moment an dem die Dynamik tatsächlich beginnt überzulaufen in Leichtigkeit / was bleibt ist der Nachhall der Räder an den Koffern Kinderwägen Sackkarren Schubkarren wie sie rollen und rollen rollen die aufgesperrten Löwenmäuler am Straßenrand verharren in ihrer Stadt

Mittwoch, 11. Juni 2008

230508/ Handout/ Marion Starke/ Tintoretto

Tintoretto

BIOGRAFIE (1518-1594):

1518 Jacopo Robusti wurde am 29. September 1518 in Venedig geboren. Der Namen Jacopo Tintoretto wurde ihm nach dem Beruf seines Vaters il tintoretto („das Färberlein“) gegeben.

Er lebte und arbeitet ausschließlich in Venedig

1550 Tintoretto heiratet Faustina Episcopi (Tochter des Hauptverwalters der Scuola di San Marco), zusammen haben Sie fünf Kinder, darunter vier MalerInnen

1565 Aufnahme in die Bruderschaft San Rocco

1594 † 31. Mai 1594, bestattet in Santa Maria dell' Orto



Die Vorbildwirkungen, die von Tizians Farbe und Michelangelos Zeichnung ausgingen, verband er mit weiteren manieristischen Einflüssen und entwickelte rhythmisch bewegte Kompositionen, die durch große Tiefenwirkung mit jähen Verkürzungen einerseits und flächenhafter Gebundenheit andererseits eine spannungsvolle Gesamtwirkung ergeben. Eine raffinierte Beleuchtungsregie und ein dynamisch-schneller Pinselduktus verwandelten v. a. in seiner Spätzeit die biblischen Szenen in erregende Lichtvisionen. Höhepunkt seines Schaffens sind die seit 1564 für die Scuola di San Rocco in Venedig gemalten Wand- und Deckengemälde mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament.

--> „Von Michelangelo die Zeichnung, von Tizian die Farbe“
--> Manierismus
--> Einfluss auf den Barock

Typischen Kennzeichen seiner Malerei:
ungewöhnliche Perspektiven
dramatische Lichtvisionen
Lichteffekte, (farbige Schatten, schimmernde Stoffe, glänzendes Gold etc.)
Rhythmische Komposition
große Tiefenwirkung
Farbe als wichtigstes Gestaltungselement
Dekorativität: sehr feine, sorgfältige und detaillierte Ausgestaltung von Gesichtern, Haaren und Stoffen
Beschäftigung mit mystischen Themen
dynamische Kompositionen und dramatische Szenener Figuren (im Wettstreit der Malerei mit der Bildhauerei, dem Paragone), Betonung der Körperlichkeit
Sinnlichkeit, kraftvolle Gestalten, hohe Plastizität
dynamisch-schneller Pinselduktus, vor allem im Spätwerk
“manieristischer Expressionismus”


Nachwirkung:
Tintorettos Neigung zu diagonalen Figurenkompositionen, die in den Tiefenraum des Bildes reichen, die Dramatik seiner Lichtgebung und die Dynamik und der Überschwang seines Stiles fanden besonders bei den frühen Barockkünstlern Bewunderer und Nachahmer, so z.B. bei dem flämischen Maler Peter Paul Rubens. Seine schriftlich verfassten Ansichten zu Form und Licht, die er bereits in seinem eigenen Spätwerk beinahe stereotyp befolgte, erstarrten bei den jüngeren Künstlern in Venedig zu leeren, letztlich auch unausweichlichen Formeln. Sein Sohn Domenico Tintoretto (* 1560, † 1637) führte die Werkstatt fort.
Der bedeutendste Vertreter des Spätmanierismus in Spanien war El Greco, ein Schüler Tintorettos.

Tintoretto sei das außergewöhnlichste Genie, das die Malerei jemals hervorgebracht habe, schrieb 1568 Giorgio Vasari über den Venezianer.



Quellenverzeichnis:
Hetzer, Theodor: Venezianische Malerei : von ihren Anfängen bis zum Tode Tintorettos, Stuttgart: Urachhaus, 1985.
Huse, Norbert: Venedig: die Kunst der Renaissance; Architektur, Skulptur, Malerei 1460 – 1590, München: Beck, 1986.
Mocanu, Virgil: Tintoretto, Bayreuth: Gondrom Verlag, 1978.
Romanelli, Giandomenico (Hrsg.): Venedig Kunst und Architektur
Sciré Nepi, Giovanna: Malerei in Venedig, München: Hirmer Verlag, 2003.
Willmes, Ullrich: Studien zur Scuola di San Rocco in Venedig, München: Scaneg Verlag, 1985.

120608/Piccolo Mondo/Marion Starke

Venedigs Pegel ist überschritten.
Zwei Uhr früh. Der Geruch von spanischen Filterzigaretten steigt mir in die Nase. Fortuna. Kay ist hinter mir. Ich klingel an der Tür des Piccolo Mondo. Ein Schwarzer Ende 20 und ein italienisch gebräunter Türsteher Mitte 30 im schwarzen Anzug, frisch rasiert, ein Hauch von Moschus. Beide sind sehr charmant-elegant – wie die Türsteher der Hamburger Nobelbar „Indochine“. Nach südländischen Feilschaktionen treten wir in die Disco der alten Republik. Das Interieur erinnert an eine Shishabar: klein, beengt, byzantinisches Ambiente. Die Tanzfläche ist leer. Die ungarische Barkeeperin mixt uns Pina Coladas. Kein Obst, keine Sahne, kein Schirmchen.

Der Musikgeschmack ist 'de gustibus' - wie ein Italiener (mit Latinum in der Tasche) mir erklärt. Der ca. 58-jährige italienische DJ im rosa-türkisem Hawaiihemd und mit Pornobrille (blau verspiegelt) trägt Schweißperlen auf seinen polierten Geheimratsecken. Er ist im Besitz von ca. 2.000 MP3-Dateien ungeklärter Herkunft und von 500 als "geklaut" eingestuften Videoclips. Die Federazione dell'industria musicale italiana (FIMI), also der Verband der italienischen Musikindustrie, sollte auch hier die Finanzpolizei zur Ace of Base-Razzia ansetzen.

Immer mehr California Girlz in Minirock und High Heels wippen ihre Booties im Takt zu Captain Jack. Kay hat Fortuna.
Bierphile Britinnen, Bierbauch-Besitzer (mit weißen Tennissocken) und elegant gekleidete Französinnen scheinen hier nicht im Trend zu liegen. Südeuropa ist von Italo-Lovern besetzt. Ihr bevorzugter Dresscode ist Macho-Mafiosi. Sie sind wie eine eigene Kaste: 350g Gel pro Löckchen, Waigel-Augenbrauen auf der Brust, die aus dem offenen weißen Leinenhemd ragen und einen Kampf mit dem Goldkettchen austragen, das sich in dem öligen Haar verzwirbelt hat.

Umringt von 1,65 m großen durch Proteinshakes selbsternannten Sexbombs bahne ich mir meinen Weg von einer Ecke in die nächste. Überall wird gezupft, gezerrt, berührt, betatscht. Freitanzen, Freilufttanzen. Escape: Exit. Sara und Ashley versuchen italienisches Balzverhalten zu imitieren. Die Türsteher ermahnen uns die Lautstärke einzupegeln.

Die Tanztraditionen reicht wie auch der Musikgeschmack von Timberlakes Lovestoned über Rihannas Umbrella bis hin zu Gasolina-Techno-Beats. Kay sehnt sich nach Britney. Timburi, ein kleiner Russe, der sich aus der Italiener-Elf gelöst hat, nach mir. Mit zuckendem Unterkörper versucht er Kontakt aufzunehmen. Die letzten Abfuhren hat er aufgrund seiner Vorliebe Spirituosen pur zu genießen, nicht reflektieren können.
Um den Abend mit schmalzlockigen Casanovas zu ertragen, verfalle ich in Tanzwut und versuche Kay Salsa beizubringen. Seine Hüften verstehen nur Elektro-Beats.

"Jak si bawi, to si bawi…drzwi wywali potem wstawi" (Wenn du feierst, dann feiere wirklich - mach die Tür kaputt und hinterher wieder heil), gibt uns Micha alias 'Der Heilige' aus Polen mit auf den Weg.
Eines haben alle europäischen Partygänger gemeinsam: dieses traurige Gefühl, wenn man sich bereits wieder auf dem Heimweg befindet. Die amerikanischen Booties verbringen ihre Zeit noch im Oba Kebab am Campo de la carità; wir im Kloster.

Dienstag, 10. Juni 2008

Déjà- vu/ Svenja Wolff/ Objektivierungsversuch/ 11.6.08

Déjà- vu

Nan Goldin hat über das Portraitieren einmal gesagt, dass ein Portrait eines Menschen nicht ein einziges Foto sein kann, sondern dass es sich erst aus vielen Bildern derselben Person in unterschiedlichsten Situationen und Lebenslagen zusammensetzt; es wird umso leibhaftiger, je mehr Facetten einer Person widergespiegelt werden.
Wie portraitiert man eine Stadt?

Venedig ist voll von Bildern. Gemälden. Aussichtspunkten. Postkartenansichten. In den malerischen Gassen drängen sich die Souvenirshops aneinander, in denen es eine Fülle an solchem Bildmaterial gibt. Man könnte sich fragen, ob die Touristen, die sich in Massen durch eben diese Gassen schieben, wiederum mehr auf diese Bilder starren als auf die Realkulisse in der sie sich befinden.
Man macht sich ein Bild von Venedig, indem man Bilder rezipiert - und diese verflechtet mit dem, was man sieht, wenn man durch die Gassen läuft.
„Das habe ich doch schon mal gesehen...“ oder „Hier bin ich doch schon mal gewesen...“ schießt einem als Besucher ständig durch den Kopf.
Nicht nur in der Stadt, sondern in der ganzen Welt, findet man Ansichten über die einzigartige Stadt und ihre Einzigartigkeit.
Wenn man auf den Haupttouristenpfaden die Sehenswürdigkeiten abklappert, kommt man nicht umhin, das Gefühl zu haben, das meiste doch schon irgendwoher zu kennen.
Wenn man sich dazu noch für Kunst interessiert, ist einem sicherlich schon einmal das eine oder andere Bild eines Renaissancemalers aus Venedig untergekommen, oder zumindest kann man die Bilder diesem oder jenem Stil zuordnen.
Vielleicht ist ein Teil Venedigs und ihrer Schätze in ein allgemeines (europäisches) kollektives Gedächtnis, einer Art Bilderkanon, eingegangen. Als in Europa aufgewachsener Mensch erlebt man nun dort etwas, was sich in Bildung und Prägung eh schon ins Bewusstsein gesetzt hatte.

Ein ähnliches Déjà-vu-Erlebnis kann jedoch auch abseits der allseits bekannten Venedigkulissen geschehen: auch wenn man sich bewusst von den Hauptattraktionen fernhält, kann es einem in dem Gassenwirrwarr leicht passieren, dass man eine bestimmte Ecke wieder zu erkennen glaubt, (ausgenommen, man ist tatsächlich im Kreis gelaufen). Durch die Wasserbegrenzung bleibt Venedig in ihrer Unüberschaubarkeit eben doch überschaubar.
Durch gegebene Umstände (wie z. B. der hohe Salzgehalt in der Luft) wiederholen sich bestimmte Anblicke: die anmutend romantisch modernden Fassaden scheinen eine Art Markenzeichen der Stadt zu sein.
Eigenartig bleibt doch, dass man gerade in einer Stadt, deren Einzigartigkeit immer wieder betont wird, immer wieder Déjà-vu-Erlebnisse hat.
Vielleicht fallen einem Details vermehrt wegen ihrer Einzigartigkeit auf, da sie in anderen Städten nicht vorhanden sind, sie sich jedoch innerhalb Venedigs immer wieder wiederholen. Regenrinnen an Häusern die man in fast jeder ‚normalen’ Stadt findet, fallen Besuchern sicherlich nicht so frappierend auf wie Venedigs unzählige Treppen, die im Wasser verschwinden, die Shops mit Masken und Glasperlen, die Gondolieri in ihren gestreiften Hemden oder die bewegten Gemälde in leuchtenden Farben mit (sich oft wiederholendem) christlichen Motiv.

Welches Bild bleibt von der Stadt? Woraus setzt sich ihr Portrait zusammen?
Vielleicht fängt man am besten damit an, wie sie sich selbst präsentiert. Obwohl die Stadt voller einzigartiger Motive steckt, gibt es erstaunlicherweise eine Vielzahl an Postkarten in den schon erwähnten Souvenirshops, die sich unnötigerweise der Fotomontage bedienen. Da jagt ein kitschiges Motiv das andere, das kleine DIN A5 Format wird überladen mit städtischer Silhouette, Gondeln, farbenprächtigem Sonnenuntergang und natürlich – Wasser. Ein bisschen zu viel Venedig.
Doch die Montage birgt eine Wahrheit in sich: Venedig wird zusammengestückelt, aus dem, was man wirklich sieht, was man sehen will, und was man schon gesehen hat.
So viel Kunst, so viel Kunstvolles und Künstliches auch im Alltäglichen auf so dichtem Raum hinterlässt zwangsläufig einen ähnlichen Eindruck wie eine Fotomontage: beeindruckend, doch irgendwie nicht ganz echt. Das kann doch gar nicht sein.
Es vermischen sich Reproduktionen mit eigenen Rezeptionen.
Je mehr Bilder dazukommen, umso klarer müsste Venedig in ihren verschiedenen Facetten, in ihrem Wesen sichtbar werden, doch paradoxerweise wird durch die Fülle an Bildern eher an ihrer Echtheit gerüttelt, oder vielmehr: sie scheint ungreifbar, unbegreiflich.

Montag, 9. Juni 2008

Ergänzung zu Ultramarinblau (Hanna/Recherchegruppe, Juni 08)


aus: „Die Technik der Malerei“ (S. 23), L. Losos, Verlag Werner Dausien (Hanau)/Artia Verlag (Praha), Prag 1988

Brauntöne (Hanna/Recherchegruppe, Juni 08)






aus: „Die Technik der Malerei“ (S. 25 f.), L. Losos, Verlag Werner Dausien (Hanau)/Artia Verlag (Praha), Prag 1988



aus: „DuMont's Handbuch zur Technik der Malerei“ (S. 52), E.v.Vietinghoff, DuMont Buchverlag Köln, Köln 1983



aus: „Die Pracht der Farben“ (S. 23), R. Liedl, Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim 1994

Ocker (Hanna/Recherchegruppe, Juni 08)


aus: „Die Technik der Malerei“ (S. 19), L. Losos, Verlag Werner Dausien (Hanau)/Artia Verlag (Praha), Prag 1988



aus: „DuMont's Handbuch zur Technik der Malerei“ (S. 49), E.v.Vietinghoff, DuMont Buchverlag Köln, Köln 1983




aus: „DuMont's Handbuch zur Technik der Malerei“ (S. 48 f.), E.v.Vietinghoff, DuMont Buchverlag Köln, Köln 1983




aus: „Die Pracht der Farben“ (S. 19&23), R. Liedl, Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim 1994

Zinkgelb (Hanna/Recherchegruppe, Juni 08)


aus: „Die Technik der Malerei“ (S. 20), L. Losos, Verlag Werner Dausien (Hanau)/Artia Verlag (Praha), Prag 1988

Cadmiumgelb (Hanna/Recherchegruppe, Juni 08)


aus: „Die Technik der Malerei“ (S. 19), L. Losos, Verlag Werner Dausien (Hanau)/Artia Verlag (Praha), Prag 1988



aus: „DuMont's Handbuch zur Technik der Malerei“ (S. 48), E.v.Vietinghoff, DuMont Buchverlag Köln, Köln 1983

Venedig/Objektivierung/ Henrike Terheyden/Stein und Farbe/

Stein und Farbe objektiviert (Versuch)

Wie das objektivieren? Venedig überrascht mit Steinen, die Farben sein können und gleichzeitig Farben begrenzen. Sie bilden Rahmen und Leinwand zugleich, und merkwürdige Bedrohung ihrer eigenen Standhaftigkeit. Denn sie stehen im Wasser. Und am Abend, wenn das Wasser steigt weil die Flut kommt, dann drückt es sich durch ihre Ritzen und Spalten. Dann legt sich das Wasser auf die Steine und lackiert den von all den Flip Flops stumpfen Marmor in gluckernden Schichten. Dann werden die Steine neu gestrichen und sie spiegeln selbst die Schichten von Bunt an den Häuserfassaden und von den Mosaikdecken.

Und betrachtet man diese Spiegelungen, dann ist das Wanken der Fassaden mit den schwer verzierten Steinen auf der Wasseroberfläche eine kichernde Warnung, dass eigentlich alles ständig wankt. Ein leichtes Wanken, das den Körper heimsucht, und auch im stabilen Deutschland schwanken die Beine noch und federn sachte weiter. Aber Steine wanken nicht! Steine sind der Inbegriff von fest, stabil, hart und unnachgiebig! Steine haben den Bewegungen der Welt zu trotzen, ein Fels in der Brandung zu sein, sie haben höchstens manchmal leicht zu erzittern, sich um Millimeter zu bewegen, um einen Einsturz zu verhindern. Aber in Venedig wanken sie. In Venedig atmen sie spürbar und sichtlich. Ließe man eine Murmel frei, müsste man ihr tagelang folgen, sie käme nie zum Liegen, schließlich fiele sie in einen Kanal.

Und auf ihrem Weg wäre sie ein Kaleidoskop aus weichem Licht. Sie spiegelte ein orange von Aprikosen wieder, an der Stelle, an der sie fast rot sind. Sie wäre grün, wie die Rückseite eines Efeublattes, und blau wie helle Seide mit blassblondem Schussfaden. Sie trüge ein ungebrochenes Rot, unbefleckt, wie das von Frauenkleidern. Immer wenn sie schwarz würde, wäre sie auch ein bisschen blau, wäre sie ein bisschen grün, trüge leicht den Schatten von violett. Nie ist das Schwarz hier Loch. Es ist immer Grund für eine andere Farbe, schwarz ist hier noch nicht einmal Schatten. Violett und dunkler Flieder mit Grau übernehmen diesen Job. Grau und weiß wären farbenfroh auf dem Glas, weil sie nie alleine stehen. Das Gelb auf dem Putz braucht die Sonne nicht, vor allem nicht, wenn ein dunkles Rot daneben steht, oder ein klares blau unter grünen Fensterläden. Und wie das Gold unter den Kirchendecken spiegeln die Fenster das Blau des Himmels und ihr Glas wird scharfer Träger von Licht und Farbe und ist bei weitem nicht durchsichtig. Und immer wirft sich jede Farbe sich selbst ihren Ton über die Wasseroberfläche zurück.

Sonntag, 8. Juni 2008

Venedig heute/Katharina Stockmann/Zufluchtsort

Venedig: Zufluchtsort

Im Jahr 2007 wurden 8.842.874 Übernachtungen in Venedig gezählt. Millionen Menschen also, die mit dem Flugzeug, dem Zug oder dem Auto angereist sind, die Nacht in einem Hotelbett verbracht und tagsüber zu Fuß Ziele im historischen Zentrum angesteuert haben.
Welchen Grund haben diese Menschen, eine Stadt zu besuchen, deren Geschichte bereits geschrieben ist, die mit allen Mitteln konserviert wird und deren Bewohner abwandern?
Der Werbetext für das Hotel Charming House auf der Internetseite www.escapio.de gibt eine Antwort: Venedig macht die „romantische Flucht aus dem Alltag“ möglich. Hans-Josef Ortheil schreibt unter dem Titel „Oasen für die Sinne“ über die Lagunenstadt und ein Veranstalter von Hochzeitsreisen verspricht „einen Hort der Inspiration und Zuflucht“. Es geht also darum, sich zurückzuziehen und aus täglichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen in eine neue Umgebung zu entkommen.
Venedig eignet sich besonders gut als Zufluchtsort, weil es so geschlossen ist. Weder werden die Ohren hier von Autolärm gestört, noch die Augen von moderner Architektur, Verkehrsampeln oder U-Bahnstationen. Wer nach Venedig reist, wird keine großen Überraschungen erleben, weil die Stadt auch wirklich so aussieht, wie sie von Bildern und aus Filmen bekannt ist. Außer den Touristen selbst fällt hier kein Detail aus dem Rahmen, sondern alles, von den verwaschenen Farbverläufen der Häuserfassaden bis zum trägen Schwappen der Kanäle, fügt sich in die Venedig-Erwartung der Ankommenden ein.
Das deutsche Gourmetmagazin A-la-Carte beschreibt Venedig als „Zuflucht für Besucher aus aller Welt, die hier die Vergangenheit als Gegenwart erleben“. Weil es sich, bis auf seinen stetigen Verfall, seit Jahrhunderten nicht verändert hat, weder wachsen noch untergehen wird, bietet Venedig einen Kontrast zu einer Gegenwart, die als Belastung empfunden wird.
Seine Bestimmung als Zufluchtsort, die bereits mit der Stadtgründung beginnt, hat Venedig also bis heute nicht verloren. Im 5. Jh. n. Chr. waren es die Westgoten und Hunnen, die die Menschen auf die unwirtlichen Salzwiesen der Lagune trieben. Heute ist es der nostalgische Wunsch, aus einer urbanisierten und vernetzten Welt in ein Stück vermeintliche Vergangenheit zurück zu reisen, für den sich Millionen Menschen in Venedig versammeln.