Samstag, 21. Juni 2008

Notizen aus Venedig/ Svenja Wolff

SAN MARCO

Es scheint, als gehe die Sonne auf, als der Wächter langsam das Licht hochfährt und die Glocken in der Ferne zufällig läuten.

Erst ein warmes orange, die Kuppeln beginnen zu funkeln, je stärker das Licht aufgedreht wird, umso mehr strahlt die ganze Decke, umso goldener wird alles. Wir sind alleine in der Kirche von San Marco.

Ich höre das Surren der Scheinwerfer. Wir sind klein. Die unglaubliche Höhe der kreisrunden Kuppeln, die Überflut an Gold, kleinsten goldenen Steinchen, sie überrollt mich. Wir werden überflutet von goldenen Mosaiken.

Vor dem Eingangsportal steigt eine andere Flut, das Wasser Venedigs, das langsam über den Marmor vorwärts kriecht, Stein für Stein überzieht, einnimmt; weiß, türkis, dunkelrot, smaragdgrün, wieder rot, und sie in ein paar Stunden wieder freigeben wird. Dann sind wir nicht mehr hier.

Sara/ endgültiger Text (-versuch)

Zur morbiden Seite Venedigs

In der Abwesenheit Venedigs durchforste ich meine Bücher auf der Suche nach den Spuren dieser untergehenden Stadt. Wie von selbst schlängeln sich die Bücher-Themen nach venezianischer Kanalmanier um ähnlich morbide Themen – stinken, faulen und enden allesamt im Todesmeer.

„Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder, der alle aufgetauchten Tage fängt. Die gläsernen Paläste klingen spröder an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt der Sommer wie ein Haufen Marionetten kopfüber, müde, umgebracht.“ so liest sich ein Spätherbst in Venedig bei Rilke, dessen neue Gedichte einige Inspiration aus der fischförmigen Stadt empfangen. Und wie die bittere Erfüllung der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, klingt es, wenn man bedenkt, dass der Dichter selbst Nachricht vom Tod einer seiner engsten Freundinnen, der Malerin Modersohn-Becker, inmitten der Kanäle Venedigs erhält...
Ganz anders motiviert, aber ebenfalls zwischen den Wasserstraßen unterwegs, ist Comissario Brunetti: Der von Donna Leon kreierte Polizeikommissar, ist stets mit der Aufklärung dunkler Gewaltverbrechen in der Stadt der tausend Vaporetti beschäftigt. Der Widerspruch zwischen romantischer Kulisse venezianischer Kanäle, Gondeln, Kirchen, dem Markusplatz und Tauben einerseits und dem schmutzigen, stinkenden Kanalwasser andererseits, in dem Leichen treiben oder was von ihnen übrig blieb, verleiht diesen Krimis eine besonders gruselige Kulisse.
„Es war ein Meisterschuß. Die Ärzte waren entzückt. Ich wurde herumgereicht. Zur rechten Schläfe hinein und zur linken hinaus. Ganz gut für einen Anfänger“, so Emilio der in Blick auf Venedig von Günther Eich nach einer erfolgreichen Behandlung seiner Blindheit mit der neuen Welt nicht zurecht kommt und sich schließlich am Ende des Stücks diesen rettenden Schuss setzt: er verliert abermals sein Augenlicht und kann fortan wieder als Blinder in Venedig leben – nur mehr angewiesen auf die Geräusche und Gerüche, die diese Stadt aussendet.
„(...) an seinem eisernen Rundtischchen auf der Schattenseite des Platzes sitzend, witterte er plötzlich in der Luft ein eigentümliches Arom, von dem ihm jetzt schien, als habe es schon seit Tagen, ohne ihm ins Bewusstsein zu dringen, seinen Sinn berührt, - einen süßlich-offizinellen Geruch, der an Elend und Wunden und verdächtige Reinlichkeit erinnerte.“ Der Tod in Venedig von Thomas Mann unterstreicht die These der Verarbeitung Venedigs als morbide Stadt in der Literatur aufs deutlichste: Hier tritt der Tod sogar als personifizierte Gestalt auf, die den Protagonisten Aschenbach heimsuchen und ihm ein Ende setzen wird.
Das langsame Hinsiechen ist beim puren Lesen des Titels bereits spürbar.

Soweit zu meinem Bücherregal.

Lebt diese Stadt nicht vor allem von dem, was war und nicht mehr ist und schlägt noch ein Geschäft aus ihrem eigenen, angekündigten Untergang?
Was könnte nicht morbider und venezianischer zugleich sein?

Sara/ Zitate

ich krieg gerade mein googlemail nicht mehr zum laufen, deshalb stell ich die Zitatliste hier in den Blog. Grüße, S.


ZITATE VENEDIG

aus der Gruppe

  • Der Archipel ist kein sicherer Ort (Christiana)

  • Einst flüchtete man in die Lagune, nun flüchtet ihre Bevölkerung (ebda)

  • Venedig... krieg ich nicht auseinander gefaltet (Isa)

  • Auf der Karte sieht Venedig aus wie ein Fisch. Ein steinerner Fisch in der Lagune. Sein Auge ist der Bahnhof (Svenja)

  • Venedig ist eine Stadt, die auf toten Bäumen steht (Janina)

  • Und ich bin ganz verzückt und möchte vielleicht eine kleine Religion gründen (Henrike)

    aus fremden Texten

  • Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,/ der alle aufgetauchten Tage fängt./ Die gläsernen Paläste klingen spröder/ an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt/ der Sommer wie ein Haufen Marionetten/ kopfüber, müde, umgebracht. (Rainer Maria Rilke – Spätherbst in Venedig)

  • Venedigs Sonne wird in meinem Haar/ ein Gold bereiten: aller Alchemie/ erlauchten Ausgang. Meine Brauen, die/ den Brücken gleichen, siehst du sie/ hinführen, ob der lautlosen Gefahr/ der Augen, die ein heimlicher Verkehr/ an die Kanäle schließt, so daß das Meer/ in ihnen steigt und fällt und wechselt. (ebda – Die Kurtisane)

  • „Höre!“, sagte der Einsame gedämpft und fast mechanisch. „Man desinfiziert Venedig.“(Thomas Mann – Der Tod in Venedig)

  • Er fand den Abgott nicht in San Marco. Aber beim Tee (...) (ebda, dasselbe)

Freitag, 20. Juni 2008

Instant /Notizen aus venedig/ Svenja Wolff

Ankommen in Venedig
Backstein. Viele Backsteine, rostrot, ziegelrot, alte Gemäuer. Ein ergrauter Herr, eigentlich schon ‚erweißter’, steht mit einem grünen Bund Spargel vor seiner hölzernen Haustür, kramt nach seinem Schlüsselbund.
Ich bin beruhigt, es gibt fantastischen Cappuccino für ein Euro zwanzig.
Und das moosige Grün, das grau-grün meiner Kindheitserinnerung, dass ich es heute wieder finde im Wasser - dass es sich überhaupt damals so sehr in mein Gedächtnis gebrannt hat.
Die Backsteine und der Geruch von Salz erinnern mich an den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Ich finde ein Stück Schleswig- Holstein in Venedig.
Dagegen: es ist schwül und die Zeit tickt anders. Während ich an einem schmalen Kanal sitze, wo zwei Arbeiter eine schwere Kiste in ihr Boot laden, schallt hinter mir „wake me up before you go-go“ aus einer kleinen Bar und ein süßlicher Backwarengeruch zieht vorüber. Tauben mit fast schwarzen Köpfen. Wäscheleinen an den Fenstern.

Raum dazwischen/ Janina Rohlik

Ein Text über Räume, Zwischenräume, Nicht-Räume, Tankstellen, Sprachen und Venedig.


Unterwegs nach Italien, nach Venedig.
Ab Anfang der letzten Maiwoche machen sich achtzehn Studentinnen und Studenten aus einer niedersächsischen Kleinstadt auf nach Norditalien./ Renaissance./ Kirchen./ Marien./ Die Flüge sind individuell gebucht und verdammt billig.//
Wir reisen per Anhalterin. Ich mag Dinge, die scheinbar nicht zusammenpassen wollen./ Würde ich fliegen käme ich mir gänzlich wie eine andere vor während dieser Tage.//

Eigenartiger Dämmer-Döse-Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen.
Das Auto fährt.
Neben der Autobahn türmen sich die grünen Bäume in langen Linien./ Radio; Werbung:
Was ist so breit wie meine Mama, so scharf wie meine Ex und so billig wie meine Witze?/
Ist ein Flachbildschirmfernseher.
- …
dämmere ganz gerne.//

Tankstelle./ Aussteigen/ Vielen Dank/ gute Fahrt noch/ Gepäck abstellen/ erstmal sitzen/ erstmal Toilette/ unter der Sperre durch ist Pinkeln umsonst/ erstmal Kaffee holen, ist und bleibt die größte Reiseinvestition/ erstmal rauchen./ Dann: weiter. Suchen/ fragen./ Zwischen weg und da an Orten, die überall sein könnten, weil sie überall gleich aussehen.//

Es ist schwül, der Himmel ist nicht himmelblau sondern ist blassblau bis blaugrau/ getrübt wie durch eine Milchglasscheibe denn der Wind bringt Wüstensand mit./ Sind Himmel manchmal ultramarinblau?/
Ultra mare/ = über dem Meer/ dort also vielleicht hängt das Ultramarinblau./ Wie gut lassen sich Farben pflücken?/ Himmelblass/ das Blau, das Ultra mare heißt/
Ist auch nicht leicht aus dem Kanalgewirr zu fischen/ dann, in Venedig/ Meer flutet bis zwischen die Häuser/ bringt ein Stück vom Ultra mare/ nicht viel/ reicht aber für die Mäntel der Madonnen/ die ganze Renaissance lang/ist doch schon mal was.//
Eine wunderschöne Sommernacht erwartet uns./…lauter Poesie aus dem Radio-Wetter-Bericht. Und diese Nacht können wir Poesie ganz gut gebrauchen.//

20.16 Uhr./
Wir fahren mit einem Österreicher nach Salzburg, dann geht der Weg weiter über Villach nach Venedig.
Ich war noch nie in Italien./
Plötzlich fahren wir den Bergen entgegen/ bleiche Schattenrisse in der Ferne/ Pappkulissen./
Bis Salzburg sind es noch 77 km.
Irgendwas an den Bergen ist schön./ schwierig Worte zu finden, dafür/ später ist auch an Venedig irgendwas schön./ Die Berge ziehen sich durch die Landschaft, sortieren alles, bilden Grenzen zwischen der einen und der anderen Seite. Können einsperren.//

Sind wir schon in Österreich?/
„So lange Sie noch Zwiebeltürme sehen, sind wir in Bayern.“/
Aber es gibt überhaupt keine Garantie:
So lange Sie hellen Sandstein, ornamentale Fensterbögen sehen, kleine Zinnen oben am Gebäuderand, sind wir im Orient.
- Wir sind aber in Venedig./
So lange Sie Paläste wie diesen sehen, mit einer Tür direkt zum Tempel, so lange sind wir bei König Salomo.
- Das ist aber nicht Salomos Palast, sondern der Dogenpalast. Das ist kein Tempel, das ist die Markuskirche./
Sind wir schon in Österreich?
Für mich hat das Andere schon begonnen, auch ohne überschrittene Grenze. Beginnt jeden Augenblick./
Was sind denn Grenzen?//
Später die gleiche Frage: Wo beginnt Venedig?/ Venedig heißen/ Venedig sein/ Was ist was?//

„Scusi…direzione Venezia?“/
Der erste Morgen in Italien:
Um 4.30 Uhr erwacht die Tankstelle; die LKWs lassen ihre Motoren an/ vor den bleichblauen Bergen: matte Sonnenscheibe, die neben dem Autogrill auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeht/ PKWs halten kurz vor unseren Füßen/ die sind noch in den Schlafsäcken//

5.00 Uhr./
Rossella kommt und beginnt im Autogrill direkt hinter unser Unmenegen von Croissants aufzubacken/ Tür bleibt zu/ noch kein Kaffee./ Wir rennen zum Aufwachen einmal um die Tankstelle//

Punkt 6 Uhr öffnet sich die Türe/ Entrata/ zu dem süß duftenden Backwerk und mit uns steht gleich eine ganze Reihe italienischer Arbeiter und LKW-Fahrer bei Rossella an der Theke/ für einen Kaffee/
Kaffee ist hier Espresso: sehr schwarz, sehr stark, sehr klein./ Fingerhutgroße Tassen, zur Hälfte gefüllt./ Und ich frage mich, ob sich im Charakter des Kaffees auch ein Stück Lebensart widerspiegelt oder umgekehrt: Ob der Kaffee die Einstellung zum Leben verändert?/ Dieser Kaffee hat etwas von einem Konzentrat./
Für alle ist es früh./ Alle: unterwegs zur Arbeit./ Aber die Stimmung ist gut/ wach/ (vielleicht macht das der Espresso)/ Bon giorno!/ aber keine Plätze haben die Autos für uns.//

Was heißt: „Fahren Sie nach…?“/ Gibt es hier in der Nähe einen Bahnhof und wo sind wir überhaupt genau? Nördlich oder südlich von Udine?/
Wir entschließen uns, die freundliche Rossella um Rat zu fragen. Rossella spricht auch Englisch. Sie ist teil dieses Zwischenraumes Tankstelle. Der Ort ist und Nicht-Ort, für uns kleiner norditalienischer Kosmos. Sie ist Teil des Raumes, der zwischen den Sprachen liegt, zwischen unserem unbeholfenen „scusi“ und dem schwungvollen Italienisch, das uns umgibt./
Rossella rät uns ein Taxi zu nehmen.//

Und plötzlich geht es ganz schnell und einfach: Ein Italiener mit großem ledergepolsterten Auto, madonnenmantelblaugetönter Sonnenbrille, Deutsch- und Englisch-Sprachkenntnissen, nimmt uns mit nach Venezia./ Radio:
Wir staunen über die rasante Geschwindigkeit dieser Sprache/
Empfang wird schlecht/ Rauschen/ klick/ aus/ klack/ ein/ CD: Eros Ramazotti./
Das erscheint mir etwas zu klischeehaft.//

Mittlerweile ist das Land wieder flach/ lassen die letzten Schattenrisse der Berge hinter uns./ Flach/ Felder, Wiesen, Wein/ Fabriken./ Im Norden Italiens ist die Industrie zuhause.//
Hinter der Madonnenbrille verbirgt sich ein Held unserer Zeit./ Kämpfer für Recht und Ordnung/ Schützer des Staates/ Mutig gegen die Mafia/ Position ermächtigt zur Personalienkontrolle/ Macht gegen Migration/
Das ist ein großes Problem in Italien./ Die Migration./ Die Rumänen, besonders./ Gehören jetzt ja auch zur EU./
Unsere Mitfahrgelegenheit ist Terrorbeauftragter am venezianischen Flughafen, zuständig für die Personenkontrolle./ Fast ist es also wie in der Renaissance geblieben./ Nur, dass weder Venedig, noch Italien Himmel ist für Ankommende./ Nur, dass die Pförtner heute selten Petrus heißen.//

8.00 Uhr morgens, Stadtrand, venezianisches Festland./
Stehe in dem kühl wirkenden Tankstellen-Café mit den roten Stühlen und den bunten Plastikblumen auf den Tischen./ Il Gazettino liegt auf einem der Tische/ Rissa tra studenti di sinistra e Forza Nuova – 4 feriti e 6 arresti dopo il raid „Sapienza“/ linke Studenten/ Schlägerei, Verletzte/ Festnahmen/ L’assembla degli studenti universitari dopo l’aggressione da parte di un gruppo di destra/ Rechte Studenten in Rom./

Vor einigen Tagen habe ich eine E-Mail bekommen: Pogrome gegen Roma in Norditalien/ daran denke ich. Und an/ die unglaubliche Greuel-Geschichte über eine junge Frau, angebliche „Zigeunerin“/ stahl angeblich ein Kind, ein italienisches, kein Zigeuner-Kind./
Die Menschen aus einem norditalienischen Dorf zünden die Hütten der dort lebenden Roma an./ Das ist nicht nur eine Geschichte./ Alles brennt nieder./
Nelle ex caserne i nuovi centri per gli immigranti/
Migration ist ein Problem in Italien. Sagt der Held mit der Madonnenbrille. Sagt Il Gazzettino, die Zeitung. Sagen die Zeitungen. Nicht nur in Italien, auch in Österreich, auch in Deutschland./
Was ist denn Migration? Was ist das Problem?
I kommt aus Chemnitz, ich aus Heilbronn. Ost und Süd und beide wohnen wir in Mitte/ Norden/ Binnenmigration.//

Ich denke an die Freunde, die ich im letzten Sommer in Rumänien gefunden habe./ J und C in Craiova/ hässliche, arme Industriestadt/ C’s Vater arbeitet, lebt/ Halbzeit/ in Italien: da gibt es Arbeit und deshalb Geld./ Transmigration/
Centri per gli immgranti clandestini//

13.00 Uhr./
Wir sitzen am Rande der Fabriken Porto Margheras./ „Es ist warm, es ist laut, es ist dreckig“, sagt I./
Außerdem ist Mittagspause oder Schichtwechsel. An der Frittenbude sind die Fritten aus und unsere Mägen bleiben leer, denn das Wort vegetarisch ist hier pure Exotik./
Zu Mittag soll es satt und kräftig machen. Es gibt Fleisch. Traditionelles mit Fast-Food-Einschlag oder Fast Food mit traditioneller Note. Dazu Bier./
Und dann Kaffee und Zigaretten, aber die gibt es sowieso für alle Pausen. Das ist hier nicht anders als irgendwo sonst/ Zwischenraum: Pause./ Kenne ich selbst./
Nur: Hier fühle ich mich: Allein unter Männern./
Sie sind alt und jung und zwischendrin. Sie tragen Sicherheitsschuhe an den Füßen und Handschuhe in den Hosentaschen und gelbe Helme am Gürtel./ I meint: „Diese Helme faszinieren mich irgendwie.“/ Manche tragen Blaumänner/ (sollten die in Venedig nicht lieber Blaumadonnen heißen?)/ andere nicht. Zwei fallen mir auf, weil sie Blaumänner tragen, die keine sind, denn sie sind weiß./
Weißmänner?//
Die Giftfabriken von Porto Marghera./
Wir laufen über das Industriegelände, Richtung Hafen, auf dem Rücken das Gepäck, im Nacken die schwüle Hitze, ab und zu ein Windhauch./ „Grüß Gott!“/ kommt unvermittelt aus einem Fabriktor/stehen bleiben/ sprechen/ zuhören/ wieder einer zwischen den Räumen/ arbeitet nicht hier/ transportiert nur, zwischen hier und Österreich/ Schöne Stadt Venezia, nicht?//

16.15 Uhr./
Venedig, Mestre, nahe der Piazzale Candiani. Nach dem Markt/
Nicht nur die Blätter und weißen Schneeblüten flattern über den Platz sondern auch Plastiktüten, Papier, verloren gegangene Einkaufszettel und Gedanken/
„Ob das die sind, die zu oft schwarz gefahren sind?“, fragt I, selbst schon zur Schwarzfahrerin in Venedig geworden, als ein Trupp von Stadtreinigern in neongelben Westen eintrifft und auf dem Platz ausschwärmt./ Keine Laubblasgeräte. Hier wird, ganz romantisch, mit Reisigbesen gefegt./ Wir picknicken italienische Köstlichkeiten und sehen uns eine Photoausstellung an./ 60er Jahre in Schwarz-Weiß. Es gibt ein paar Hinweistafeln aber nur auf Italienisch und so bleibt die Geschichte Mestres nebulös./ Soviel aber ist sichtbar: Kinder, Arbeiter, Kommunisten./
Auf der Piazzale Candiani fangen zwei Jugendliche an, Break Dance zu üben. Etwa eine Stunde lang fangen sie damit an. Machen Aufwärmübungen. Hören damit auf, reden. Sie trägt ein verwaschenes T-Shirt und eine weite Hose und lange Zöpfe und fasziniert mich. Ihr Telefon klingelt, er bekommt eine Zuschauerin, blond gelockt und rausgeputzt, die eine Weile dasteht und schaut und nicht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll und deplaziert aussieht. Und schließlich wieder geht. Jedenfalls kommen sie nicht wirklich zum Tanzen und überhaupt wirkt alles so ein bisschen schwierig und kompliziert./
Wir stehen im offenen Treppenhaus über der Piazzale und schauen den beiden zu. Und schauen und schauen und denken uns ihre Geschichte aus und sind ganz gefesselt./ Es dauert lange, bis wir uns auf den Weg zum Bus machen./ Jetzt kommt Venedig, die Insel.//

Hanna/neuer endgültiger Text/Juni'08

mein neuer text handelt von menschen in venedig im allgemeinen - er nimmt auch bezug auf meine markusplatz-mosaike und andere bilder, die ich ausstellen möchte


Menschen Venedigs - Einheimische vs. Touristen?

Venedig – das ist nicht nur das Wasser der Lagune, das die Pfahl- & Steinmasse zärtlich umspült. Eine eifersüchtige, zermürbende Zärtlichkeit, die dem Objekt seiner Begierde langsam den Boden unter den Füßen entzieht.
Venedig – das sind auch die Menschen: Menschen, die hier geboren sind, & andere, die später nach Venedig finden. Menschen, die hier leben, Menschen, die hier Urlaub machen, Menschen auf Stippvisite. Menschen, die geschäftlich hier sind: Business-Typen. Oder Künstler: Schriftsteller, Schauspieler, Maler & Musiker, die sich von ihrer Liebe zu dieser Stadt inspirieren lassen. Hier atmet Kultur aus jeder Mauer, von der der Putz langsam abbröckelt & die dadurch umso liebenswerter erscheint. Privilegierte Menschen, die eine neue Wahlheimat gefunden haben und einen Teil des Jahres, des Lebens hier verbringen dürfen.
Andere bleiben nur kurz & verlassen die Stadt mit Wehmut – Touristen.
Sie kommen mit dem Auto, dem Bus, dem Zug, dem Flugzeug oder über das Meer – in einer eigenen Yacht, einem Segelboot, oder per Kreuzfahrtschiff: Venedig als kurzfristige Station einer Reise, auf der sich die Eindrücke zu vieler Städte in zu schneller Abfolge miteinander kreuzen – das klingt nach Blasphemie, Verrat an der „Serenissima“, der allerdurchlauchtigsten aller Städte.
Italo Calvino sagte: „Jedesmal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig... Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muß ich von einer ersten Stadt ausgehen, die inbegriffen ist.“
Venedig als Ur-Stadt? Venedig als Pracht, an der sich, wenn man sie einmal erfahren hat, alle anderen Städte messen müssen. Eine undankbare Rolle für die meisten anderen Städte.
Eine Pracht, von der man aber auch Erholung braucht. Venedig ist zu schön um wahr zu sein & schmerzt gelegentlich.
Leidenschaft ist es, die viele Menschen nach Venedig zieht, & wenn man sie vorher nicht gefühlt hat, dann erfährt man sie hier.
So viele Menschen. Aus allen Ländern, von allen Kontinenten. Alle Alter, alle Hautfarben, alle Kombinationen: Allein-Reisende, Paare, Familien, Gruppen: Schulgruppen, Seniorengruppen, andere Gruppen.
Zu viele Menschen. Manchmal denke ich sie mir weg. Wünsche mir, diese Gasse, diesen Platz für mich alleine zu haben. Wünsche mir, diese Stadt zu kennen, wie meine Westentasche: jede Calle, jede Ponte, jeden Campo. Frage mich – wie wäre es, hier geboren zu sein?
Wie ist es, hier geboren zu sein? Die Eingeborenen sind auf der Straße schwer auszumachen. Aber diese alte Frau, die von einer andere Frau über die Brücken geführt wird – die wird doch hier geboren sein? Oder dieser alte Mann, den eine Frau durch die Gassen von Guidecca schiebt – der lebte schon immer hier, und wird hier auch sterben? Und diese beiden Männer, die sich in einer engen Gasse freundlich im Vorbeigehen grüßen und im Weitergehen die Neuigkeiten des Tages austauschen, die haben früher schon als Kinder zusammen auf dem Campo San Polo Fußball gespielt?
Der alte Mann, mit dem ich mich auf der Bootshaltestelle von San Erasmo unterhielt, erzählte mir: Ich war Gondoliere. Ja, ich bin hier geboren. Jetzt sind meine beiden Söhne auch Gondolieri.
Ein alter Berufsstand, den es nur in Venedig gibt. Neue Lizenzen werden nicht vergeben, erzählt ein Tourist vor der Seufzerbrücke seiner Frau, der Beruf wird weiter vererbt. Wo gibt es denn sowas noch? Wie kann man eine Stadt, die viele solcher Eigentümlichkeiten beherbergt, überhaupt mit anderen Städten vergleichen? Ich kann es nicht.
Die Einwohner schwinden, nicht jeder kann Gondoliere sein, und soviel andere Arbeit gibt es hier nicht. Genau so wenig sind alle, die hier arbeiten, Einheimische. Allen voran die Schwarzen, die in überfüllten Booten über das Meer nach Italien kamen, illegal, und nun aus Plastiksäcken heraus Plagiat-Handtaschen verkaufen, illegal. Aufgereiht stehen sie vor allem an der Riva degli Schiavoni, Uferpromenade zwischen Markusplatz & den Giardini, das billige Angebot ausgebreitet auf Plastikplanen, die bei Gefahr, schnell an allen vier Ecken genommen, zum Sack werden und die Hehlerware verbergen. Wenn der erste in der Reihe hört, dass Ordnungsbeamte nahen, packt die ganze Reihe eilig ein, flieht & sucht sich einen neuen Platz.
Wie fühlt sich einer, der in Venedig geboren ist & dann wegziehen muss? (Ein Luxusproblem? Venedig ist ein Luxus, auf den man nicht mehr verzichten kann ...) Schlimmstenfalls nach Mestre, der hässlichen Schwester der schönen Stadt, die gleich gegenüber am Festland liegt. Wo Industrieschornsteine statt Kirchtürme in den Himmel ragen & wo man in Mietskasernen lebt statt in Palazzi. So nah an Venedig, zum Greifen nah & doch weltenweit entfernt.
Wie fühlt man sich als Eingeborener Venedigs, wenn man in den Gassen der Stadt nur Fremden begegnet? Die wie eine Invasion vom Himmel fallen oder über das Meer kommen. Ein Heer, eine Streitmacht, die Anspüche auf Venedig erhebt: hier, ich habe diese Reise gekauft, & jetzt will ich auch ein Stück von Venedig haben. Aber wenn Tausende ein Stück wollen, und wenn es allen so gut schmeckt, dass sie ein zweites und drittes Stück nehmen, was bleibt dann noch übrig?
Reservate für Eingeborene, entlegene Stadtteile, Gassenzüge ohne Frari-Kirche oder Rialtobrücke, in denen Eingeborene Caffè trinken, & garantiert keinen Caffè Americano. Da sitzen sie an einer unspektakulären & dennoch schönen Fondamente, irgendwo in Cannaregio, kauen an ihren Fingernägeln, jenseits der Anderen, die durch ihre Objektive ein Motiv nach dem anderen erlegen.
Und wenn sie raus wollen aus ihrem Stadtteil? Bleibt ihnen die Linie 3, für Touristen verboten, die daran erinnert werden: die Stadt ist nicht ganz in euer Hand & unter euren Füßen.
Oder die, die hier Arbeit gefunden haben, schwere Wagen vor sich her schieben, über eine Brücke nach der anderen, schaffen sich durch energische Warnrufe einen Weg durch schlendernde Touristen.
Rolling Venice – eine Gesamtattraktion wie Venedig muss am Laufen gehalten werden. Alles was da ist, für Hotels, Geschäfte, Einheimische & Touristen, muss hierher gebracht & verteilt werden, ohne LKWs. Und so sieht man auf den Kanälen nicht nur schwarze Gondeln, die Touristen tragen, sondern ebenso viele Motor- & Lastboote. Die einen bringen eine neue Waschmachine, in einem anderen macht sich ein junges Paar auf zu einem Ausflug auf eine ruhigere Insel der Lagune, die Erholung verspricht von der Mutterinsel. Eine Löwenmutter, die die anderen Inseln schützend unter ihre Flügeln nimmt, & sie gleichzeitig von dem eigenen Glanz abschirmt. Eine prächtige Löwin, aber ohne feste Pranken, ohne Bodenhaftung, und auch die Schwingen sind nicht flugtauglich.
Tiere Venedigs – Kühe, Hühner, Schweine gibt es nur auf dem Teller. Löwen nur in Stein & Legenden. Pferde nicht mal in Standbildern. Tauben gibt es, unzählige, vor allem auf dem Markusplatz. Möwen gibt es, denn dies ist eine Stadt am Meer, wenn auch nur indirekt. Katzen gibt es nur wenige. Wenn, dann wurden sie systematisch kastriert oder auf anderen Inseln ausgesetzt. Hunde gibt es, überwiegend kleinere Rassen, aber keine Dackel, denn die können nicht gut Brücken steigen. Hunde, die Kot hinterlassen – vom verantwortungsvollen Halter im Plastikbeutel mitgenommen, vom wenigstens beschämten mit einem Stück Zeitung überdeckt und umso tückischer, wenn man ahnungslos drauf tritt. Ab der Dämmerung gibt es auch Fledermäuse, deren Schwingen & Schwirren man zwischen den eng zusammenstehenden Gebäuden vibrierend vernehmen kann, wie ich mir des öfteren einbildete.
Zurück zu den Menschen - Menschen Venedigs: Einheimische vs. Touristen? Es tun sich zwei Parallelwelten auf, habe ich gehört. Und man erfährt es auch, etwa wenn man zu einem gehobenen Preis einkauft, oder eben, wenn einem die Fahrt mit der Linie 3 verwehrt wird.
Venedigs Menschen – das sind nicht nur die Menschen von heute, die von morgen, die übermorgen wieder abreisen – das sind auch die Menschen von gestern. Ganz gestern, Menschen aus längst vergangenen Epochen. Menschen, die die Gemälde Canalettos bevölkern – Menschen mit anderem Erscheinungsbild, anderem Zeitgefühl, anderen Möglichkeiten.
Imaginierte Menschen: Don Juan oder Gustav von Aschenbach, der den Tod in Venedig fand.
„Menschen“, die nie in Venedig waren, aber omnipräsent sind: heilige Menschen, allen voran Maria & das Jesuskind, in den Gemälden Bellinis oder Tizians.
Dogen, die die Macht Venedigs verkörperten. Händler, die den Orient ins Abendland brachten. Weltreisende, die es aus Venedig raus trieb um es mit anderen Städten und Ländern zu vergleichen – Marco Polo. Adlige, die sich Paläste am Canal Grande bauten.
Und andere Namen, die ewig bleiben: Gabrieli, Monteverdi, Vivaldi – Menschen, die Venedig & all seine Pracht vertont haben – auch wer Venedig nie gesehen hat, kann seine Schönheit in einem Violinkonzert oder einer Oper dieser Meister nachempfinden.
Menschen Venedigs – Einheimische vs. Touristen? Nein, auf den Gassen & Kanälen Venedigs herrscht kein Krieg. Hier fliegen keine bösen Blicke wie Pfeile durch die Luft. Es ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander, mindestens ein Nebeneinander - man braucht sich.
Hier & da lächelt ein Venezianer einem Fremden müde hinterher, nicht verachtend, sondern bedauernd: ich lebe hier, doch du bist morgen wieder fort ... arme Seele ... doch nimm dir ruhig ein Stückchen meiner Stadt mit, denn ich kann all diese Pracht unmöglich allein (er)tragen.
Und überhaupt, das spürt hier auch der Ungläubige: was Gott gegeben hat, das soll man teilen.

20/06/08 Nora Wicke / Karmin

Karmin

Rote Wände die ebenso wie Aquarellbilder aggressiv machen sollen Scharlachbeeren die nach rauschhaften Zuständen klingen Florentiner Lack eingeatmet ausgespuckt

das ist der Ton in Wien wie Rosen Wein und Samtsofa gedämpft reich und verstaubt
leicht zurückhaltend und doch stark gedämpft vorm offenen Feuer auf dem gefärbten Lammfell zwischen Gläsern und Blüten gebadet in Paris gepflegt

in meinen Raum verirrt sich kein karminrot höchstens unabsichtlich ein kleiner Stein aus dem Kinderzimmer rübergerollt erholen sich meine Augen an der weißen Wand

Donnerstag, 19. Juni 2008

190608/ Marion Starke/ Kaleidoskop




Burano zieht an!

Burano kleidet sich in kunterbunten Schichten. Dicht nebeneinander reihen sich Maigrün, Violett, Karminrot, Altrosa, Kanariengelb, Pink, Ocker, Ulramarinblau und noch viele andere Farben in den unterschiedlichsten Schattierungen. Burano ist eine Farborgie für die Augen und heute Anziehungspunkt für viele Künstler.
Wieder bietet Venedig die Frage: Ist diese Villa Kunterbunt mit seinen kleinen angemalten Häuschen eine Theaterkulisse oder ist das Wirklichkeit?

Verkündigung Tizian

Mittwoch, 18. Juni 2008

Kein Ort zum bleiben / Endgültiger Text / Christiana

Kein Ort zum bleiben

Selbstgefällig ragt Venedig aus der weiten, ebenen Wasserlandschaft und präsentiert seine Pracht, als würde es aller Naturgewalt trotzen wollen. Reichgestaltete Paläste und Kirchen erzählen von einer großen Vergangenheit. Unwirkliche, morbide Kulisse in diesiger Melancholie der Lagune.

Der Archipel ist kein sicherer Boden. Das wussten bereits die ersten Siedler. Auf der Flucht vor den einfallenden Goten, fanden sie gerade deshalb in der Lagune Zuflucht. Das unwegsame Marschland war nur Einheimischen bekannt und zu unsicher für fremde Invasoren. Obwohl das Sumpfgebiet kein Ort für eine dauerhafte Besiedlung war, blieben die Flüchtenden.

Hüttenbau auf hohen Ufern, ein Meer von hundert Inseln, geschaffen durch die natürlichen Wasserläufe, die vom Festland zur Adria hervor drangen. Einige von ihnen bilden inmitten der Lagune zusammengeschweißt das Fundament des Stadtkerns. Durch ihn windet sich s-förmig der Canal Grande, die spätere Prestigestraße Venedigs. Vom ihm führen Kanäle zu den anderen Teilen der Stadt. Das Wasser bestimmte von Anfang an das Leben.

Man baute mit leichten Materialien, wie Holz und Ziegeln; man rammte Pfähle unter die tragenden Mauern in den Boden, um ihn belastbarer zu machen. Eine intelligente Statik, angepasst an den bewegten Untergrund, ermöglichte mehrstöckige Häuserbauten. Venedig wuchs mit seiner Bevölkerung. Venedig war attraktiv.

Von der Weltmacht zur Ohnmacht.

Zwischen Orient und Okzident gelangte die Stadt zur Weltmacht, betrieb Handel, füllte ihre Speicher und wurde reicher. Bis ihr diese Rolle von anderen abgenommen wurde. Doch was sie sich auf ihrem Grund erschaffen hatte, blieb ihr erhalten, über Kriege hinweg bis heute.

Bezaubernde Kulisse. Besucherüberschwemmung. Venedig begann sich selbst im Ausland zu handeln. Teil dieses Handels wurde der eigene Untergang. Die Schutzmacht des Wassers ist obsolet, stattdessen wird es zur eigenen Bedrohung.

Einst flüchtete man in die Lagune, nun flüchtet ihre Bevölkerung.

Die ganze Welt ist zu Besuch.

Was bleibt?

Anmerkung: Der Text ist noch nicht fertig...

180608/ Marion Starke/ Lagunenmeer

Ein Objektivierungsversuch.


Über das Meer und die Lagune.

Das Wasser der Lagune funkelt geheimnisvoll: acqua luminosa. Ein milchiges Smaragdgrün, das sich wie ein wanderndes Farbmosaik auf den blätternden Hausfassaden spiegelt.

Zwischen den schwimmenden Plastikflaschen klettern vereinzelt Krebse an tannengrünen Gewächsen zur Oberfläche. Farn aus Atlantis dringt zur Oberfläche, bricht das wertvolle Funkeln. Arielles Haare, Verwehungen im Algenmeer. Birgt die Stadt Versunkenes? Ich würde gerne in der Lagune tauchen. Ich würde gerne diese Lagune taufen.

Die Insel hüllt sich in einen diesigen Schleier drückender Hitze. Ein klebriger Film feuchter Schwüle umgibt mich und lässt nicht los. Die Luft sieht so schwer aus wie sie sich anfühlt. Sie wickelt sich wie Frischhaltefolie um meine Haut. Ich zwänge mich zwischen den Pfützen der Schatten. Grüne Killermücken kühlen ihre Füße auf meinem klebrigen Körper. Meine Haut ist eine Spielwiese. Schwüle, Sonne, Hitze und immer wieder Hitze. Ich schwitze und verschwimmen in der Lagune.

Wenn diese Kreuzfahrtdampfer durch den Canal de Guidecca fahren, sieht es so aus, als würden sie irgendetwas vor sich her schieben – als würden sie auf einem Fließband laufen. Bewegen sich die Kreuzfahrtschiffe? Bewegen sie die Stadt? Verschieben sie die Silhouette der Serenissima?

Ein Moosteppich aus Algen bedeckt die Treppenstufen der Vaporettostationen. Unterschiedliche Farb- und Klangschattierungen ertönen in den Wasserstraßen zu verschiedenen Phasen des Tages. Das Plätschern des Wasser, die Wellen, wie sie gegen die Planken der Vaparettos peitschen. Kleine Mückenlarven werden aus der Bewegung des Wassers heraus gewirbelt. Kleine Elfen surren.

180608/ Marion Starke/ Venedig Bedeutung

Venedig heißt für mich ein Stück Vergangenheit aufsaugen. Von kulturellen Streifzügen über Maler, Kurtisanen und Poeten. Von kulinarischen Streifzügen in Trattorien über das Leben und Lieben auf der Piazza. Von zahlreichen Bauwerken verschiedener Stilepochen, die steingewordene Zeugnisse der Stadtgeschichte sind. Von Glanz, Melancholie und Künstlichkeit in Geschichten, Gedichten und Berichten, die das Fluidum, der über den Wassern schwebenden Serenissima, zu mir trägt.


Venedig heißt für tausend gurrende Tauben auf den Zinnen der Paläste sitzen. Von Büste zu Büste fliegen, Tramezzini-Brotsamen zu picken, Fotografen zu erschrecken, Dreck auf dem Mamorboden verteilen, kreischenden Weibern entgegen zu flattern, im Gesims der Markuskirche nächtigen und sich auf den Köpfen der Löwen zu vermehren.

170608/Marion Starke/Tod in Venedig

„Tod in Venedig“ ist die Zeit „wenn die Gondeln Trauer tragen“

Venedig heißt für ca. vier ausländische Touristen im Jahr eine Stadt voller Mysthik. Ein Trug-, ein Traumbild, das dazu veranlasst sich das Leben zu nehmen. Ganz bewusst wählen sie die Stadt in der Lagune. Depressionen, private und berufliche Probleme schüren vor allem bei Singles um die 40 Selbstmordgedanken, die die Schriften von Richard Wagner und Thomas Mann lasen. Das "Venedig-Syndrom" lässt Frauen eine Überdosis Schlaftabletten im überteuerten Hotelzimmer nehmen und Männer aus dem Fenster oder von der Rialto-Brücke in den Canale Grande stürzen.

Dienstag, 17. Juni 2008

„Held Gottes“ - Erzengel Gabriel von Sina Bengsch

überarbeitete Version

„Held Gottes“ - Erzengel Gabriel

„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden.“ (Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 1, 26-38)

Die Verkündigungsszene ist nicht nur die älteste, sondern auch die beliebteste Darstellung der Engel in der christlichen Kunst. In Venedig ging die Verehrung der Mariä Verkündigung soweit, dass der Mythos geschaffen wurde, das Venedig am 25. März 421 n. Chr. gegründet wurde, dem Tag an dem das Ereignis der Mariä Verkündigung gefeiert wird.
Der Erzengel Gabriel ist der Engel der Verkündigung, er dient als Bote Gottes und verkündete dem Zacharias die Geburt des Johannes des Täufers und Maria die Geburt Jesu. Die genaue Übersetzung von Erzengel Gabriel lautet „Held Gottes“.
Er wird als schöner Jüngling mit kurzen, blonden Locken und leuchtenden Gewändern, die vermutlich sein Lichtwesen versinnbildlichen sollen, dargestellt. Seine rötlichen Wangen weisen darauf hin, dass man früher dachte, dass die Engel aus Licht und Feuer bestehen. Nicht selten wird er mit einer Lilie in der Hand abgebildet. Sie ist seit der Antike ein Symbol der Reinheit und der Schönheit, aber auch Symbol des Todes. Die Madonnen-Lilie, eine Unterart der Gattung der Lilien, bekam aufgrund ihrer strahlend weißen Farbe ihren Namen. Sie ist häufig auf Gemälden zu sehen, die das Thema der Verkündigung aufgreifen. In Tizians Kunstwerk die Verkündigung, das zwischen 1560-1565 für die Kirche San Salvador entstand, sucht der Betrachter jedoch vergeblich nach einer Lilie, alles was er entdecken kann, ist eine Kristallvase, die unterhalb der Maria steht, in der scheinbar die Blütenblätter in Flammen stehen. Unter der brennenden Pflanze steht eine Inschrift auf den Stufen: IGNIS ARDENS ET NON COMBURENS, ein brennendes Feuer, das doch nicht brennt.
Bei diesem Gemälde, das eine Größe von 403*235 cm misst, legt Tizian eine starke Betonung auf die Leuchtkraft von Licht und Farbe. Das Gewand vom Engel Gabriel besteht aus einem feinen, fließenden Stoff, der einen zarten Rosastich aufweist, darunter schimmert ein weißes Untergewand hervor. Der rechte Ärmel des rosa farbigen Gewands ist stark aufgebläht, so, dass an dieser Stelle, das weiße Untergewand zum Vorschein kommt. An den Beinen liegt das Gewand stark in Falten und scheint, wie der Ärmel, von einem Windstoß stark in Bewegung versetzt zu sein.
Ein Schal in Tizianrot, ist wie ein Gürtel, zweimal um seine Hüften geschlungen. Der gleiche Farbton des Schals taucht in den Sandalen des Engels wieder auf.
Tizian scheint seinen Pinselstrich allein für die Kraft der Bewegung einsetzen zu wollen. Diese Absicht von Tizian, lässt sich bei seiner Darstellung des Engel Gabriels erkennen. Der Engel befindet sich in einer nach vorn, zur Maria, strebenden Bewegung, dieser Eindruck entsteht durch die weit nach vorn gelehnte Position des Oberkörpers und den nach vorn gesetzten rechten Fuß. Der rechte weit gefiederte Flügel des Engels, der nach oben ausgerichtet ist, verstärkt diese Wahrnehmung. Die vor der Brust gekreuzten Arme und der linke Flügel, der nach unten zeigt, scheinen das Tempo des Engels abzubremsen.
Seine ganze Körperhaltung ist auf Maria fokussiert, mit Ausnahme seines Oberkörpers der sich leicht zum Betrachter, aus dem Geschehen hinaus, dreht. Sein Blick ist auf das Gesicht von Maria gerichtet, während Maria ihren Blick leicht senkt, wahrscheinlich will Tizian so, das Einverständnis von Maria zum göttlichen Plan, zeigen.

Verkündigung von Sina Bengsch

Maria und Erzengel Gabriel
Ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Darstellungen der Verkündigungsszene

Die Verkündigungsszene war in der Renaissance ein beliebtes Bildmotiv. Meistens waren Maria und Erzengel Gabriel gemeinsam zu sehen.
Ich werde im Folgenden drei Kunstwerke die die Verkündigungsszene aufzeigen auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersuchen. Die drei Künstler der Gemälde sind Tizian, Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese, diese Reihenfolge der Werke werde ich bei meinem Vergleich weitestgehend beibehalten.

Zuerst konzentriere ich mich auf die drei verschiedenen Darstellungsvarianten der Maria. Tizian kleidet seine Maria in leuchtenden Farben, rotes Kleid und blauer Mantel, der Stoff ist sehr glänzend und wirkt fein. Ihre rechten Zehen ragen unter dem Gewand hervor, der Fuß ist nur in einer Sandale gekleidet. Tintoretto stellt seine Maria in schlichteren Kleidern dar, der Stoff wirkt grob und schwer und die Farben sind matt. Sie trägt ebenfalls das für die Madonna typische rote Kleid, zu dem trägt sie einen grünen Unterrock (oder ähnliches) und über ihrem Schoß liegt eine orange farbige Decke, der blaue Mantel/Übergewand fehlt gänzlich. Auch bei dieser Maria ragen die Füße unter ihrem Gewand hervor, diese sind im Gegensatz zu Tizians Maria allerdings in geschlossenen, schlichten Schuhen dargestellt. Veroneses Maria trägt pompöse Kleider, der Stoff liegt stark in Falten und glänzt. Die rote Farbe des Kleides ändert sich bei dieser Ausführung und tendiert stark zu einem Rosa-Farbton. Der blaue Mantel wirkt sehr sperrig (massig) und ist auf der Innenseite mit grünem Stoff ausgekleidet.
Auf das weiße Kopftuch wird bei keiner der Mariendarstellung verzichtet, allerdings sind sie, zu der restlichen Kleidung passend, verschieden ausgeführt wurden. Ebenfalls fehlt bei keinem Gemälde das Buch, das mal auf ihrem Schoss, mal neben ihr aufgeschlagen liegt und zeigen soll, dass die Verkündigung des Erzengels Gabriel sie beim Lesen unterbrochen hat. Die unterschiedliche Darstellung der Hände in den drei Bildern ist besonders auffällig. Tizians Maria hält mit ihrer rechten Hand fast spielerisch das eine Ende des Kopftuches hoch, während die linke Hand das Buch umschließt und mit ihrem Zeigefinger zwischen den Buchseiten, die gerade gelesene Seite, offen hält. Tintoretto lässt die geöffneten Hände seiner Maria ausgestreckt zum rechten Bildrand zeigen, die so die Gegenbewegung zur Handbewegung des Erzengel Gabriels bilden. Nur die Maria von Veronese hält ihre Hände schützend vor ihren Körper, die rechte Hand ruht auf ihrer Brust und die linke verharrt auf Bauchhöhe, während sie den Mantel hält.
Ihr Gesichtsausdruck ist unterschiedlich in den Kunstwerken ausgeführt. Während der Betrachter Tizians Maria ernst, aber gefasst wahrnimmt, wirkt Tintorettos Maria sehr erschrocken und Veroneses Maria fast schon ängstlich.
Der Heiligenschein taucht in Tintorettos und Veroneses Gemälden auf, beide sind kreisförmig um den Kopf der Maria angeordnet, fallen im jeweiligen Vergleich des Scheins der sich um den heiligen Geist befindet eher dezent aus.

Komme ich nun zu der Darstellung des Erzengel Gabriels, er ist der Engel der Verkündigung und teilt Maria mit das sie den Sohn Gottes gebären wird.
Tizians Engel Gabriel ist in einem rosa farbigen Gewand gekleidet, an den Schultern ragen weiße Ärmel darunter hervor. Tintorettos Erzengel Gabriel trägt ein weißes, sehr feines Gewand, das sich sehr stark in Bewegung befindet. Der Erzengel Gabriel gemalt von Veronese ist die farbenfrohste Darstellung, er trägt ebenfalls wie Tizians Erzengel ein weißes Unterkleid, darüber befindet sich ein rosa/rotes Gewand und als Highlight, ist ihm noch eine grüne Schärpe um den Brustkorb gebunden. Der Erzengel Gabriel hat in allen drei Darstellungen blonde Locken und leicht gerötete Wangen.
In Tizians Kunstwerk betritt der Engel Gabriel von links das Bildgeschehen. Er hält seine Hände schützend vor seiner Brust gekreuzt. Sein Blick ist auf Maria gerichtet. Der Erzengel Gabriel gemalt von Tintoretto kommt durch die Tür geflogen und nimmt im Gegensatz zu den anderen beiden Darstellungen eine waagerechte Haltung ein, er befindet sich in einer Art Drehbewegung, so das dem Betrachter hauptsächlich sein Rücken zu gewand ist. Seine Hände sind ähnlich einer Tanzhaltung (-position) ausgestreckt. In der linken Hand hält er eine Lilie, die ein Symbol für Reinheit und Schönheit ist. Zwischen Maria und ihm gibt es direkten Blickkontakt. Bei Veronese scheint der Erzengel Gabriel im Raum zu schweben. Seine linke Hand hält, wie bei Tintoretto, eine Lilie, während die rechte nach oben ausgestreckt ist und der Zeigefinger zum Himmel deutet.
Die Flügel sind weitestgehend in allen drei Versionen gleich. Es tauchen die Farben rot, weiß und schwarz, allerdings in unterschiedlichen Anordnungen, in den Flügelflächen auf. Bei Tizians Erzengel Gabriel ist die Flügelspannweite am größten, es handelt sich ausgerechnet um die stehende Version des Erzengels, beim schwebenden und fliegenden Engel liegen die Flügel deutlich näher beieinander.
Der Mund, der bei den Verkündigungsszenen eine wichtige Rolle spielt, ist bei Tizians Ausführung des Erzengel Gabriels geschlossen, bei Tintoretto ist der Mund leicht geöffnet und bei Veronese ganz geöffnet.
Zum Schluss gehe ich auf die Darstellung des heiligen Geistes, den Raum und Anordnung der Personen ein.
Der heilige Geist nimmt in allen drei Gemälden die Gestalt einer Taube an, die nur ein Symbol des heiligen Geistes im Christentum ist. Die Taube scheint sich bei allen drei Ausführungen in einer Form des Sturzflugs zu befinden. Tizian und Veronese stellen den heiligen Geist als weiße Taube dar, die umgeben von Licht (Schein) ist. Bei Tintoretto geht der heiligen Schein direkt von der Taube (heilige Geist) aus und weist eine Kreisform auf.
Während Tizian und Veronese ihre Szenen eindeutig in einer Palastumgebung ansiedeln, was deutlich wird durch die hohen Säulen und die ausstaffierten Räume, gestaltet Tintoretto seine Räumlichkeiten ärmlich und demoliert, allerdings taucht bei diesem Kunstwerk die für Venedig typische Kassettendecke auf.

Eine Engelsschar taucht sowohl bei Tizian, als auch bei Tintoretto auf und sind in der oberen Bildhälfte angesiedelt. In Tintorettos Gemälde folgen die Engel stromartig dem heiligen Geist von der linken Seite ins Bildgeschehen, direkt auf die Maria zu. Von den Engeln sind hauptsächlich die Rücken mit ihren dunklen Flügeln und hellen Haarschopfe zu bewundern.
Tizian stellt seine Engel dem heiligen Geist rechts und links zur Seite. Der Betrachter kann deutlich die unterschiedlichen Gemütszustände der Engel in Bezug auf die Verkündigung des Erzengel Gabriels wahrnehmen, sie reichen von erstaunt, erschrocken bis zu wütend, interessiert. Ein Engel reckt seine Hände betend zum Himmel empor.

Tintoretto ist der einzige der drei Künstler, der auch Josef in sein Gemälde mit aufnimmt. Er siedelt ihn in der linken Bildhälfte, in seiner Werkstatt an, und zeigt ihn etwas versteckt von seinem Werkzeug bei seiner Arbeit, dem Tischlern.

Textentwurf/Jennifer Fandrich

Hier die überarbeitete Version, leider immer noch nicht ganz so fertig...




Tor-ohne-Schuss-aber-mit-geheim-Panik oder Man reist ja nicht, um anzukommen.
Den richtigen, den persönlichen Zugang zu einer Stadt finden: Wie?
Schreiben, Soundscapes, Skizzen und Wirklichkeit mit Fotos abbilden.
Versuche.

Durch die Gassen laufen, Brücken überqueren, Bilder betrachten und beschreiben, auf Plätzen stehen und versuchen, ein GEHEIMES TOR zu finden, das einen in die Stadt bringt, die alle Geheimnisse nur für einen persönlich bereithält.

Wir laufen auf Steinen, stone by stone, Millionen. Damit wir nicht im Schlick, im stinkenden Morast versinken, wurden Lärchen, Erlen, Ulmen, Eichen, Kiefern mit der Spitze voraus in den Boden gerammt. Wie hält das? Immer wieder die gleiche Frage. Luftleerer Raum versteinert das Holz, das Holz wird zu Stein, der die Stadt trägt. Noch.

Wir gehen über Brücken, die die Gassen zusammenhalten und verbinden, gehen geschwungen über Wasser, das angeblich einen eigenartigen Geruch hat und schmutzig ist. Den Geruch erahne ich nur nachts, wenn das Wasser still steht und der Touristen- und Venezianer Verkehr auf Booten und Gondeln ruht.

Wir betrachten Bilder, wir versuchen sie zu be- und umschreiben. Kein Tizian, kein Tintoretto, kein Carpaccio und auch kein Bellini ist vor uns sicher.

Campo S.Polo, Piazza S. Marco, Campo S.Margherita, Piazzale Roma.
Aber WO IST DAS TOR?

„Fährt man aber den Canal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein.“ sagt Georg Simmel.
…..

Man reist ja nicht, um anzukommen.

Venedig mit hinüberretten nach Hildesheim. Etwas mitnehmen von dem Mythos lautet die Maxime. Einen Text schreiben, der den persönlichen Zugang schafft und gleichzeitig einen kunstwissenschaftlichen Kontext hat. Viele Ideen, einige Ansätze, weniger Umsetzungen.

Aus Erinnerung heraus schreiben, aus Erinnerung und Vergegenwärtigung heraus einen Ansatz finden, erinnernd das geheime Tor finden. Re: scrivere und Re: zurück. Mit dem Vergangenen konfrontieren und dadurch die Gegenwart aktualisieren.

Mir stellt sich die Frage: Wie haben das die Künstler gemacht, die einen kurzen Aufenthalt in Venedig hatten und dann, zurück in der Heimat, Skizzen vervollständigt, Aquarelle in Ölgemälde umgesetzt haben? Welche Rolle spielen Erinnerungen, Bildgedächtnis, Idealbilder?

Mir fallen viele ein: Turner, Monet u.v.m., die ganzen großen europäischen Künstler des 19. Jahrhunderts, die in Venedig waren, sich inspirieren ließen, nicht abbilden wollten und schließlich doch die Stadt ständig reproduzierten. Statt ein Urteil über die Stadt abzugeben, beschrieben und analysierten sie erste Eindrücke. Die Stadt war nie ganz wirklich.

Joseph Mallord William Turner war drei Mal in Venedig: 1819, 1835 und 1840 war dann seiner letzter Aufenthalt. Es bleibt offen, ob die Stadt für ihn reine Schönheit repräsentierte, wie es der Großteil seiner Bilder andeuten, oder auch als Symbol für Verfall gesehen wird, wie es das Zitat zu seinem Gemälde „The Sun of Venice going to Sea“ andeutet:
„Hell scheint der Morgen, sanfte Lüfte wehn,
Venedigs Fischer heiter spannt sein buntes Segel heute,
Und achtet nicht des Dämons, der in grimm`ger Ruhe,
Schon auf der Lauer steht, nach des Abends Beute.“
Die Bedeutung des Bildes offenbart sich schnell: Die Besatzung des Fischerboots „Sun of Venice“ segelt frohen Mutes aufs Meer hinaus und ahnt noch nicht, dass es abends untergehen wird. Diese Thematik entspricht natürlich der Venedig-Thematik des Unterganges, die ruhmreiche und glanzvolle Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Einige Aquarelle schuf Turner, noch ehe er Venedig 1819 das erste Mal besuchte. Ein vorab gemachter erster Eindruck. Eine Illusion. Er nutzt Erinnerungen, die nicht die seinen sind, es sind Bilder aus dem großen Bild-Gedächtnis, das es über Venedig schon seit Jahrhunderten gibt. Der erste Aufenthalt soll maximal fünf Tage gedauert haben, entspricht etwas unserem Studienfahrtsaufenthalt, da erscheint die Produktion von 125 Bleistiftskizzen und 4 Aquarellen schon sehr umfangreich. Er zeichnete Konturen, er vermied die genaue Beschreibung der Form eines Objekts. Die Bilder wirken schwerelos, sind nicht greifbar. Sie bilden viel ab, nur keine Wirklichkeit. Sie zeigen Umrisse, deuten Farben an, zeigen den schnellen Pinselstrich.

Turners Zeitgenossen nehmen zu Anfang des 19.Jahrhunderts Anstoß an seiner ungewohnten Malweise, sie kritisieren seinen freien Umgang mit formalen Mitteln, seine freie Abbildungweise.
Als Turners größter Verteidiger trat dann John Ruskin auf die Bühne, der schon als 17jähriger Turners Werke emphatisch verteidigte und später mit seinem Werk „Modern Painters“, das 1843-1846 veröffentlich wurde, in einer Hymne auf die Schönheit und Kraft der Natur sowie auf die Stimmungen in Turners Werk Turner verteidigte und interpretierte. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Venedig 1841 dachte er ständig an seinen Modern Painter, er begann sich mit Turner Sehweise zu identifizieren:
„Im Zwielicht schob sich eine schwere Gewitterwolke über den Dogenpalast, und endlose Blitze, noch ohne Donner, zuckten hinter seinem First auf, wie Feuerwerksraketen aus dem Rauch über St.Angelo in den Himmel schießend, um über dem Lido niederzugehen; dabei erhellten sie die edle Gruppe der Salute und tauchten sie in bläuliches Spektralweiß; jeder Blitz berührte sie mit schwebender, geheimnisvoller Anmut – wie sie Turners Werken eigen ist: und hoben die Umrisse der Kuppel dunkel gegen den von Blitzen erhellten Himmel ab.“
Das Zitat könnte in Anlehnung an Turners „Gewitter auf der Piazetta“entstanden sein. In späteren Jahren, als Ruskin mit der Arbeit an seinem Buch „Stones of Venice“ begann, wandte sich Ruskin anderen Themen zu und Turners Bilder „waren gar nur noch angenehme Ablenkung“.
……….

Zurück zu der Frage nach der Erinnerung in Turners Bildern: Einige seiner Werke entsprechen seiner Vorstellungskraft, seiner Idealansicht von Venedig und seinem Stimmungsgehalt, sie sind nicht direkt vor dem Motiv entstanden. Beispielsweise gibt sein „Blick von der Giudecca nach Osten am frühen Morgen(?), 1819“ einige Rätsel auf: Die Topografie findet sich weder in Venedig noch in der Lagune, der hohe Turm könnte der Campanile von San Marco sein, während der Umriss der Bauten vor dem Horizont auf das Ufer der Bucht von der Piazetta bis zur Kirche Santa Elena hinweist, doch selbst dann stimmen viele architektonische Details nicht. Es lässt sich annehmen, dass Turner einen Sonnenaufgang malte und dann seine idealisierte, kompakte Venedig-Ansicht aus dem Gedächtnis hinzufügte.
Es ist nicht mehr die reine Abbildung der Stadt, die Canaletto, Venedigs bekanntester Vedutenmaler, anstrebte. Turner malt aus Erinnerungen, aus eigenen und aus dem großen Pool des Bildgedächtnisses Venedigs; er benutzt im Kopf entstandene Idealbilder, geprägt, von dem, was er sieht und seinem Wunschbild der Stadt.

DA IST DAS TOR, endlich, ich habe es gefunden: es ist Turners Blick auf die Stadt in seinen Aquarellen: Konturen auf Farbflächen, kein Gewicht, Formen, die zerfließen, die sich abschotten, die Stadt nicht greifbar machen. Es gibt kein vollständiges Bild mit allen Details, es sind Facetten, erste Eindrücke, immer wieder bestätigt. Licht und Luftbewegungen sind exakt.

Skizzen sind unvollständig, Gondeln werden wieder übermalt, sind aber trotzdem noch zu erkennen unter einer blaulila-Wasserfarbschicht. Ja, das ist Venedig für mich: Es vergeht und zerfließt, es zerfällt und gleichzeitig ist es ohne Zeit, auch zeitlos, ist immer da und wird nie neu. Nur die Sicht der Menschen verändert sich, die Stadt bleibt bis auf abbröckelnden Putz und mit Hochwasser vollaufende Erdgeschosse immer gleich.

Unvollständige Bilder sind das Bildwerk Turners über Venedig, unvollständige Skizzen sind meine Erinnerungen an Venedig.

Handout/Jennifer Fandrich/Venedig-Bilder und Venedig-Deutungen des 19.Jahrhunderts


Venedig-Bilder und Venedig-Deutungen des 19. Jahrhunderts

Der Ausgang / Die Ausgangslage:

Politisch: Der Untergang

1797 verlor die Adelsrepublik durch Napoléon Bonaparte ihre Selbstständigkeit
Oktober 1797 Frankreich überließ die Stadt Österreich im Austausch gegen die Lombardei
1805 erneuter Tausch, Napoleons Armee zog wieder in Venedig ein, Napoleon war inzwischen Kaiser
1815 Wiener Kongreß schlug Venedig wieder den Habsburgern zu
1848/9 demokratischer Aufstand gegen die Österreicher scheitert
1866 Angliederung Venedigs an das Königreich Italiens

Vedutenkunst:
Eine Vedute (italienisch veduta: Ansicht, Aussicht) ist in der Bildenden Kunst die wirklichkeitsgetreue Darstellung einer Landschaft oder eines Stadtbildes. Dem Ziel der realistischen Abbildung sind alle anderen Aspekte bei der Bildgestaltung (Licht und Schatten, Farben, etc.) untergeordnet. Zweck ist es, wichtige Monumente von historischer oder religiöser Bedeutung bzw. besondere Feierlichkeiten (Prozessionen, Erbhuldigungen etc.) zu verewigen.

Wichtigste Vertreter der venezianischen Vedutenkunst:
Antonio Canaletto (1697-1768):
Seine Grundkonzeption richtet sich auf das Monumentale und Dauernde, das Denkmalartige der Serenissima. Er beobachtete als kühl konstatierender Historiker.

Francesco Guardi (1712-1793):
Gedicht steht gegen Bericht (Canalettos). Guardi zeigt das Bewegte, die Lust am Augenblick, Menschenmengen, die sich triebhaft auf den Kanälen, Straßen und Plätzen tummeln. Diese Struktur seiner Einbildungskraft befähigt Guardi, eine neue Dimension der Stadt zu zeigen: er deutet stärker Venezia memore, das abseitige Venedig an. Er malt die Dekadenz Venedigs mit einer skeptische Melancholie.

Goethe (1749-1832):
Formuliert in seinen Tagebüchern vom September 1786, was künftig die gesamteuropäische Venedig-Sicht bestimmen sollte: „Sie (die Markusrepublik) unterliegt der Zeit wie alles was ein erscheinendes Daseyn hat.“

Malerei

Historienmalerei
Eugène Delacroix (1798-1863):

Enthauptung des Dogen Marino Falier (1826, London, Wallace Collection)
Entstand nach Byrons Schauspiel „Marino Falier, Doge of Venice“ (1820)
Francesco Hayez (1791-1882):
Erster, bekannteste und talentierteste romantische Maler von Historienstücken
Stil: melodramatisch und formal geprägt, Gespür für Kompositionen, venezianisch beeinflusster Farbensinn

Europäische Einflüsse:

William Turner (1775-1851):

britischer Maler und führender Vertreter der Romantik; er gehört zu den größten englischen Künstlern. Turner besuchte Venedig erstmals 1819, dann noch einmal in den Jahren 1833,1840.
àTurner feiert nicht die tote Stadt, sondern stellt Venedig als einen magischen Ort dar, um Assoziationen an den ehemaligen Reichtum heraufzubeschwören.

James Abbott McNeill Whistler (1834 -1903):
US-amerikanischer Maler, 1879 reiste Whistler im Auftrag einer Londoner Galerie nach Venedig, wo er zahlreiche Pastelle und Radierungen schuf.
Oscar Wilde über Whistler:
„Ich habe Jimmy Whistler in London oft "en passant" gesehen. Er hat gerade eine zweite Serie von Radierungen über Venedig fertiggestellt - Wassergemälde, wie sie auch die Götter noch nie geschaut haben. Seine Ausstellung wird in vierzehn Tagen in einem gelbweißen Raum eröffnet (vom Meister der Farben ausgestattet) mit einem erstaunlichen Katalog. Das zu malen, was man sieht, ist eine gute Regel in der Kunst, aber zu sehen, was zu malen wert ist, ist besser. Betrachten Sie das Leben unter dem Aspekt des Malers. Es ist besser, in einer Stadt mit veränderlichem Wetter als in einer Stadt mit lieblicher Umgebung zu leben. Nachdem wir gesehen haben, was den Künstler ausmacht und was "der" Künstler macht, nun die Frage, wer ist der Künstler? Unter uns lebt ein Mann, der alle Qualitäten der edelsten Kunst in sich vereint, dessen Werk eine Freude für alle Zeiten und der selbst ein Meister aller Zeiten ist. Dieser Mann ist Whistler.“

Claude Monet (1840-1926):
Monet hielt sich in seinen letzten Lebensjahren zusammen mit seiner Frau in Venedig auf, im Jahr 1908. Es zeigten sich erste Anzeichen seiner Augenerkrankung. Dort malte er nicht nur, sondern studierte in Kirchen und Museen Werke von Künstlern wie Tizian und Paolo Veronese. Monet begann viele Gemälde in Venedig und überarbeitete sie manchmal jahrelang noch im Atelier. Zum Teil beginnt er die Bilder noch einmal von Neuem. Damit spielt die Erinnerung an das Motiv und Empfindung eine größere Rolle ein, als das ursprüngliche Motiv. Seine Werke aus Venedig wurden erneut von den Kritikern lobend aufgenommen. So wurden die Bilder beispielsweise als „farbig schillernde Ferien“ bezeichnet.


Das proletarische und triviale Venedig
Der Hang zum proletarischen Venedig bekundet sich bei Künstlern wie Ettore Tito (La pescheria vecchia a Rialto, (1887) ), Allessandro Milesi (La colazione del gondoliere (1893)), Domenico Bresolin (Casa diroccata (vor 1859)) u.v.m.
Das triviale Venedig wird von Vilhelm Marstrand, einem dänischen Spitzweg, karikiert (Das englische Paar in der Gondel (1854) und findet sich auch in vielen Darstellungen von Hochzeiten und Hochzeitpaaren in den Lagunen, etwa bei Favretto ( In Erwartung des Brautpaares (1879)), oder Milesi (Heirat in Venedig (1897)).

Städtische Entwicklung

Napoleons Beitrag zur Stadtgeschichte besteht zum einen Teil darin, dass er eine Menge von Kunstwerken nach Paris schaffen ließ und die Ordenshäuser auflöste. Städtebaulich ging das Schicksal der Stadt auch einen Schritt in die Moderne: dazu gehörten die weitere Nutzbarmachung und Neugewinnung von Land. . Einer der dramatischten Eingriffe war die Zerstörung des Westendes der Piazza , un dort die Ala Napoleonica zu erbauen, den Napoleanischen Flügel.
Im weiteren Verlauf der Modernisierung:
Erweiterung des Wege- und Straßennetzes (Bau der Strada Nova 1871), Zuschüttung von Kanälen
1846: Bau der Eisenbahn: Personen und Güter kamen einfach und schnell nach Venedig
à Das implizit zugrunde liegende Stadtkonzept war konventionell und eindimensional. Das Verständnis für das höchst komplexe Ganze, das in den Zeiten der Republik mittel-und langfristig in aller Regel doch die Oberhand behalten hatte, gab es nicht mehr. An die Stelle jahrhundertslanger Erfahrung trat eine nicht selten naive Begeisterung für alles, was nur irgendwie neu erschien.


Literatur:

Parallel zur Modernisierung der Stadt entstand ein Venedigbild, das der alltäglichen Wirklichkeit der Stadt eine virtuelle literarische entgegenstellte, die bald die mächtigere werden sollte und schließlich auch auf das tatsächliche Geschehen der Stadt zurückzuwirken begann. Anfangs lagen beide Wirklichkeiten noch nahe zusammen, wie Lord Byrons Dichtungen zeigen:
Lord Byron (1788-1824):
Britischer Dichter, übersiedelte 1816 nach Venedig, in die nun österreichische Provinzstadt. Die Stadt hatte nach dem Abzug der Franzosen politisch, wirtschaftlich und emotional den tiefsten Punkt ihrer Existenz erreicht.
„Ode on Venice“ (1818) beklagt den Untergang Venedigs:
„Oh Venice! Venice! When thy marble walls
Are level with the waters, there shall be
A cry of nations o`er thy sunken halls,
A loud lament along the sweeping sea!”
Während seines Aufenthaltes publizierte er 1816 den dritten und 1818 den vierten Gesang seines Versepos “Child Harold`s Pilgrimage“, die ihn zu einem der gefeiertesten Dichter seiner Zeit machen sollte.
àByrons Venedig war ein literarisches Venedig, die physische und soziale Wirklichkeit der Stadt blendete er aus seiner Dichtung ebenso aus wie die Neuerungen der napoleonischen Zeit.

Franz Grillparzer (1767- 1819):
“Der erste Eindruck war fremd, einengend, unangenehm. Diese morastige Lagune, diese stinkenden Kanäle, der Schmutz und das Geschrei des unverschämten betrügerischen Volkes geben einen verdrießlichen Kontrast mit dem kaum verlassenen heiteren Triest.“

John Ruskin (1819-1900):

englischer Schriftsteller, Maler,Kunsthistoriker und Sozialphilosoph.
„Stones of Venice“ (London, 1851/53) war das einflussreichste Venedigbuch des 19.Jahrhunderts. Für ihn war Venedig zugleich Memento Mori und Denkmal:
„Seit zuerst die Herrschaft des Menschen sich über das Weltmeer geltend machte, sind drei Reiche von höherer Bedeutung als alle anderen an seinen Gestaden errichtet worden:Die Reiche von Tyrus (=Atlantis), Venedig und England. Von der ersten dieser großen Mächte besteht nur die Erinnerung, von der zweiten der Verfall; die dritte, die ihre Größe erbt, kann, wenn sie ihr Beispiel vergisst, durch stolze Erhöhung zu minder beklagten Untergang geführt werden.(…) Ihre Nachfolgerin (=Venedig), die ihr in der Vollkommenheit der Schönheit gleich kam, wenn auch weniger in der Dauer der Herrschaft, ist uns noch geblieben und wir dürfen in der Schlussphase ihres Niederganges betrachten; ein Gepenst am Gestade der See, so schwach – so still - so beraubt allen Besitzes, nur nicht ihrer Lieblichkeit, daß man im Zweifel sein kann, wenn man ihr mattes Abbild in der Spiegelung der Lagune erblickt, welches die Stadt und welches der Schatten ist.“
Er sah seine wesentliche Aufgabe in der systematischen Erforschung der mittelalterlichen Architektur Venedigs. Mit seinem Buch „Seven Lamps of Architecture“ hat Ruskin hat ganze Generationen Wert und Würde des Alterns in der Architektur respektieren lassen, das er als eine Form des Lebens verstand, nicht als eine Vorform des Todes.


Souvenirkarten:

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lieferte die Schweizer Firma "Photochrom Zürich" (P.Z.) Serien von Andenkenbildern aus den Metropolen Europas, von Landschaften und Ausflugszielen. Während sich die Lagunenmetropole im Untergang befindet und zahlreiche Bewohner ihre Heimat verlassen, lockt der marode Charme Touristen an - und die noch junge Fotografie eröffnet völlig neue Möglichkeiten, den Daheimgebliebenen nun mit Souvenirkarten von der Großartigkeit der eigenen Reise zu berichten.

Montag, 16. Juni 2008

Venedig von innen nach außen/noch fragmentarischer Textentwurf

Hier ein erster noch fragmentarischer Textentwurf von mir, ich habe mich letzten Endes doch für das Dogenpalastthema entschieden und stecke noch mittendrin und am einigermaßen am Anfang- ich hoffe ihr könnt etwas damit anfangen, ich habe eine grobe Gliederung gemacht, die weiter erweitert werden wird..:

Venedig von Innen nach Außen – das schwere Herz in der leichten Stadt oder der Bildspeicher und der freie Blick – Venedig in schwarz und weiß- ein Essay

Der Dogenpalast als subjektives und objektives Inneres der Stadt

Venedig von innen . Nicht die Straßen von Venedig, die in der grellen Sonne weiß leuchtende Stadt mit den Marmorfassaden, den Postkartenansichten von den Campi und der berühmten Piazza. Man stelle sich eine Innenseite der Fassadenstadt vor. Die Venedig-Box. Das Negativ. Die Innenaufnahme. Der Raum, der mit seiner inneren und der in ihn eingeschriebenen Geschichte dem äußeren Stadtbild ebenbürtig wäre.

Die innerste Schaltzentrale des historischen Venedig war der Palazzo Ducale. Zur Blütezeit des Stadtstaates war er der Mittelpunkt eines nach allen erdenklichen Richtungen des Staatswesens arbeitenden kinetischen Gesamtkunstwerks. Wirtschaft, Flotte, Verwaltungsstaat, immer aber auch die Kunst blühten in der Stadt auf dem Wasser. Venedig als Löwe mit Flügeln, der sich aus dem Wasser in den Himmel streckt „Venetia città nobilissima et singolare“. Dieses Selbstbild schrieb sich die Stadt wiederum selbst in ihre innersten Hallen ein. Die Säle des Dogenpalastes sind ausgemalt mit Bildern zur Geschichte, Ruhm und Idealen der Stadt. Alle die Schätze von draußen sind hier reingetragen worden, die Kunst auch, und die Menschen haben sich versammelt um über das Schicksal der Stadt zu entscheiden. Säle, Schatzkammern, Dunkelkammern.

Eine neue Bilderfahrung, diese Kammer. Eingeschlossen in einem unendlich vielfältigen Kokon aus künstlichen, gestalteten Materialien. Der Weg durch den Dogenpalast ist auch nicht klar, man kommt durch einen festen Eingang hinein und einen anderen wieder heraus, die Wege der Gäste werden aber neu bestimmt, die Museumswächter sind Festhaltepunkte in einer Route, die verlegt, je nach Ziel unterschiedlich fortgesetzt wird, der gerade Rückzugsweg ist nicht möglich.

Als Kokon für den Besucher, der als Angeklagter hier herein kam gefährlich, er konnte als Kellerassel wie als Schmetterling enden.

In der Funktionszeit des Dogenpalastes ließ einen dieses Gehäuse nicht einfach wieder los ins Freie.

Man trat zusammen zu einer Entscheidung.

Gestaltung bis in die Unendlichkeit eines Ornaments. Der Fußboden auf dem ich stehe, die Wände, die mich umgeben und die Decke über meinem Kopf. Dieser Saal ist eine Umwelt, die aus gestalteter Geschichte besteht. Das was mich unmittelbar umgibt, will ich wenigstens verstehen können. Die unmittelbare Frage ist, wer hat darin gelebt, was war die Wahrheit vor dem Museum?

Eine Frage, die zu beantworten ist. Erstmal. Die Politik.

Sala del Maggior Consiglio. (Stranger in paradise-Arbeitstitel)

Genauere Untersuchung eines Saales, das „Bildprogramm“ im Zusammenhang mit den Funktionen - mein Saal ist die „Sala del Maggior Consiglio”

Der Saal von Venedig, ein großes Bildgefängnis?

Die vergoldeten Rahmen schlingen sich um die Bilder herum. Man folgt den Rahmen statt den Bildern, die dahinter liegen. Goldene Bänder die sich ineinander knoten, sich ringeln und in immer feineren Ornamenten auslaufen. Die Rahmen haben sich von den Bildern gelöst und schaffen eine eigene Deckenarchitektur, ein vergoldetes Gerüst für eine Decke aus Ölgemälden.

Die Maler waren tatsächlich gezwungen, sich nach dem Rahmengerüst des Künstlers Cristoforo Sorte zu richten. Das Entwurfsblatt ist mit scharf umrissenen, detaillierten Ornamentzeichnungen angefüllt, die nur ein paar weiße Flecken freilassen.

Nach einem Text von 1530 wurde die Sala del Maggior Consiglio in Venedig auch als „Paradiso del Mondo“, als irdisches Paradies bezeichnet, die venezianischen Gefängnisse dagegen als „Inferno“. Die Mitglieder des Maggior Consiglio verglich Spathafora mit den Engelschören. Das Paradies? Ein Saal mit riesigen Ausmaßen, ein weiter Saal, die Stirnseite ist das größte Wandgemälde der Welt. Heute sind die Fenster verhängt. Steht man im „Paradies“ wünscht man sich einen Blick in den freien grauen Himmel.

1577 hat es im Paradies gebrannt.

Für die Gestaltung des Paradiesgemäldes gab es eine öffentliche Ausschreibung. Es sind viele Modelli, die sich im Bildaufbau gleichen, erhalten.

Das Programm der Bilder wurde vom Senat bestimmt. Die Themen waren nichts Neues, weit verbreitet, aber schon zur damaligen Zeit ohne Anhaltspunkte nicht so einfach zu entschlüsseln.

Hier soll eine genaue Analyse der einzelnen Bilder, deren Bedeutung auf ikonographischer und ikonologisch- politisch- gesellschaftlicher Ebene entstehen

(>Die Nutzung )

Parties wurden hier gefeiert, Feste, schon zur Blütezeit der Serenissima Repubblica.

Auf den unheimlichen kleinen Dokumentationsbildern von Gabriel Bella sind Ratszusammenkünfte im Dogenpalast dargestellt. Der große Rat. Lange Reihen schwarzer Gestalten mit weißen Perücken, die auf doppelten Holzbänken Rücken an Rücken sitzen.

Das Paradies im Hintergrund, die hohen erhellten Fenster über den unzähligen weißen Köpfen sieht das Bild wie ein Weltgericht aus.

Handout/Katharina Stockmann/Carpaccio

Vittore Carpaccio und sein Bilderzyklus in der Scuola San Giorgio degli Schiavoni

Die venezianischen Scuole
- Entstanden aus der Flagellantenbewegung des 13. Jh.
- Scuole Grandi (um 500 Mitglieder) und Scuole Piccole (50-70 Mitglieder)
- Verbindendes Interessengebiet: Handwerkszünfte, Religionsgemeinschaften, gemeinsame Herkunft usw.
- Aktivitäten: Karikative Aktivitäten, Mäzenatentum, Bau und Ausstattung des Gildehauses bzw. Altars
- Funktion in der Republik: Einbindung und Beteiligung der politisch rechtlosen Bürger, Soziale Absicherung

Scuola di San Giorgio degli Schiavoni
- Schiavoni=Slawen: Dalmatiner aus dem Süden Kroatiens (venezianisches Herrschaftsgebiet)
- 1451: Gründung der Bruderschaft und Bau der ersten Scuola (Schutzheilige Georg, Hieronymus und Triphonius)
- 1502: Erwerb einer Reliquie des hl. Georg, Auftrag an Carpaccio für Gemäldezyklus
- 1797: Sturz der Republik, Schließung aller Scuole durch Napoleon
- 1807: Wiederruf der Enteignung der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni – die Scuola besteht bis heute

Vittore Carpaccio
- * um 1465, + 1526 in Venedig
- Wichtigste und beste Arbeiten: Gemäldezyklen für venezianische Scuole:
- 1490-1496: Leben der hl. Ursula in der Scuola der hl. Ursula (heute Accademia)
- 1502-1507: Gemäldezyklus für die Scuola di San Giorgio degli Schiavoni
- 1504-1511: Leben der Muttergottes für die albanische Scuola
- 1511-1520: Leben des hl. Stephan für die Scuola des hl. Stephan

Bilderzyklus in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni

Der hl. Georg bekämpft den Drachen
- hl. Georg: Christlicher Märtyrer, 3. Jh. n. Chr., Legende: Drachentöter
- Komposition: Diagonale von den Hinterfüßen des Drachen über die Lanze Georgs bis zur Prinzessin rechts oben
- Ornamentale Formen, dekorativer Wert der Linie und der Kontur, geometrische Grundformen
- Mögliche Deutung: Georg als Kreuzritter, Drache symbolisiert die Türken
- Verstreute Leichenteile: Memento Mori, Spuren eines Exzesses

Der Triumph des hl. Georg
- Georg bringt den besiegten Drachen in die Stadt und tötet ihn
- Orientalische Formen: Schauplatz der Legende in Selene, Libyen
- Venedig: Drehscheibe des Orienthandels
- Konstantinopelreisen Gentile Bellinis (1479) und evtl. Carpaccios selbst
Der hl. Georg tauft die Ungläubigen
- Statt die Prinzessin zu heiraten tauft Georg das Volk des Königreichs
- Erzählfreude Carpaccios: Schilderung von Details (Turban, Papagei, Windhund), auch mit symbolischer Bedeutung

Das Wunder des hl. Triphonius
- Märtyrer im 3. Jh. n. Chr., angeblich Gänsehirt
- Legende: Befreiung der Tochter des römischen Kaisers Jordan von einem Dämonen
- Triphonius als Kind, Dämon in Gestalt eines Basilisken
- Hintergrund: Venezianische Architektur

Das Gebet im Ölgarten/Die Berufung des hl. Matthäus
- Die beiden ersten Bilder des Zyklus (1502)

Der hl. Hieronymus führt den Löwen in das Kloster
- Hieronymus: * 347 in Stridon/Dalmatien, + 30.9.419 Bethlehem
- Dalmatischer Nationalheiliger, Kirchenvater, Übersetzung der Bibel ins Latein seiner Zeit (Vulgata)
- Legende: Ein Löwe kommt ins Kloster, um sich von Hieronymus einen Dorn aus der Pfote ziehen zu lassen und wird anschließend dessen treuer Gefährte und Attribut
- Kontrast zwischen den schrägen Linien der fliehenden Mönche und der senkrechten Gestalt des Hieronymus
- Farbe: Wiederholung des Blau-Weiß der Kutten im gesamten Bild
- Schauplatz: Kloster in Venedig (Hospiz bei San Giovanni del Tempio)
- Humor Carpaccios: Eher Situationskomik als Satire

Die Beerdigung des hl. Hieronymus
- Klage des Löwen im Hintergrund
- Komposition: Vertikalen und Horizontalen, „rhythmische“ Anordnung der Figuren
- Fehlende Tragik: Carpaccio als distanzierter Regisseur einer Theaterbühne, keine psychologische Wirkung

Die Vision des hl. Augustin
- Nicht Hieronymus sondern Augustin in der Studierstube: Bischofsmitra, Augustinerhabit
- Legende: Während Augustinus einen Brief an den hl. Hieronymus schreibt, erscheint dieser ihm in Lichtgestalt und verkündet seinen Tod
- Licht der Erscheinung fällt in den Raum, auffällig: dreieckige Schatten
- Licht und Fluchtlinien münden auf der schreibenden Hand Augustins
- Innenraum: Saal in einem venezianischen Palazzo des 15. Jh.
- Flämischer Einfluss: Versammlung von Bildern mit symbolischer Bedeutung im Innenraum: Musiknoten (Augustinus „De Musica“), Antike Skulpturen, Armillarsphäre, Altar mit zurückgezogenem Tuch (Auferstehung) etc.
- Mögliche Deutung: Augustinus im Licht der Vernunft, neue Bedeutung der Wissenschaften, humanistische Weltsicht

Recherche Giogio Vasari / Christiana

Giorgio Vasari

Giorgio Vasari (geb. 30. Juli 1511 in Arezzo (Toskana), verst. 27. Juni 1574 in Florenz) ist ein italienischer Kunstschriftsteller, Maler und Baumeister. Seine Lebensbeschreibungen italienischer Künstler zählen zu den bedeutendsten Quellen zur Kunst der italienischen Renaissance.

Seine künstlerische Ausbildung erhielt er in Florenz. Dort wurde er von den Medici, die die Politik und das kulturelle Leben der Stadt beherrschten, gefördert und gemeinsam mit Alessandro und Ippolito de’ Medici unterrichtet. Neben Baccio Bandinelli wurde Andrea del Sarto sein wichtigster Lehrer. Sein intensives Studium von Sprachen und antiken Quellen prägte seine spätere schriftstellerische Tätigkeit.

Ab 1537 malte Vasari einige Fresken in Rom und Florenz sowie Altarbilder und Porträts. Außerdem entwarf er Kostüme und Bühnendekorationen für verschiedene Festlichkeiten. In Rom studierte er die Werke Michelangelos, die sein späteres architektonisches Schaffen prägen sollten. Hier verschaffte ihm einer seiner Auftraggeber Zugang zu den gelehrten Kreisen um Kardinal Alessandro Farnese, den späteren Papst Paul III. Er lernte andere Künstler kennen, aber auch Historiker wie Paolo Giovio und Literaten wie Annibale Caro. Vermutlich waren es diese Kontakte, die Vasari zur Abfassung seiner Lebensbeschreibungen italienischer Künstler bewogen, auf denen bis heute sein Ruhm beruht. Das Werk Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani (Die Lebensbeschreibungen der berühmtesten italienischen Architekten, Maler und Bildhauer, 1550 Erstveröffentlichung, überarbeitet und erweitert 1568) war die erste umfassende Sammlung von Künstlerbiographien überhaupt. Die überarbeitete Ausgabe seiner Biographiensammlung beinhaltet neben der Vita Michelangelos und anderer bedeutender Maler seiner Zeit – darunter Cimabue, Giotto, Brunelleschi, Donatello, Masaccio, Raffael und Leonardo – auch Vasaris Autobiographie.

Sie sind ein unschätzbares Dokument des historischen, ästhetischen und kunstkritischen Denkens seiner Zeit und des Verfassers selbst, obwohl sich Vasari oft von rein subjektiven Eindrücken leiten ließ, den Text anekdotisch ausschmückte und die wissenschaftliche Genauigkeit immer wieder vernachlässigte. Vasaris unbeschwerter, natürlicher Schreibstil trug dazu bei, dass dieses Werk zu einem der meistgelesenen Bücher zur Kunstgeschichte wurde und Vasari zu einem der ersten Kunsthistoriker. Das Vorbild seiner Viten hat die nachfolgende europäische Kunsthistoriographie bis weit ins 18. Jhd. maßgeblich beeinflusst - sie wurde Kunstgeschichte. Wichtige Begriffe wurden von Vasari geprägt: „finsteres Mittelalter“, „Renaissance“.

Zitate:

„Michelangelo stellte Herrn Tommaso in einem großen Karton nach der Natur dar, er, der weder vorher noch nachher jemals ein Bildnis fertigte, da es ihm ein Greul war, etwas nach dem Leben zu machen, wenn es nicht von höchster Schönheit war.“ – Vasari, 1568


"It goes without saying that the arts must have been discovered by some one person; and I realize that someone made a beginning at some time. And of course it is possible for one man to have helped another, and to have taught and opened the way to design, colour, and relief; for I know that our art consists first and foremost in the imitation of nature but then, since it cannot reach such heights unaided, in the imitation of the most accomplished artists." (from The Lives)


Werke:


Le Vite de' piú eccellenti pittori scultori ed architettori da Cimabue insino a' tempi nostri.
Florenz, Torrentino, 1550 (überarbeitet 1568).

Die deutsche Gesamtausgabe in neuer Übersetzung von Victoria Lorini erscheint seit 2004 im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin: Giorgio Vasari, Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, hg. von Alessandro Nova mit Sabine Feser, Matteo Burioni und Katja Lemelsen. Bisher (Anfang 2007) sind 14 Bände erschienen, 40 sind insgesamt in Planung.

Giorgio Vasari. Mein Leben. Neu übersetzt von Victoria Lorini, kommentiert und herausgegeben von Sabine Feser. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach 2005, 192 S. mit einigen sw- u. farb. Abb., ISBN 978-3-8031-5026-4.

160608/ Marion Starke/ 1000 Füße auf dem Markusplatz

Ich habe mehrere Baustellen. Hier ein Touristen-Text, den ich momentan noch überarbeite. Ich überlege eine andere Erzählperspektive einzubringen.

Millionen Füße auf dem Markusplatz

Millionen Schuhsohlen reiben die Pflastersteine blank. Millionen Hände schmirgeln den Marmor der zwei Säulen auf der Piazzetta dei Leoncini glatt. Was mögen sie denken, in jenem magischen Moment, an dem sie zum ersten Mal ihren Fuß auf den Platz setzen? Geht es ihnen wie dem Schriftsteller Julien Green, der befürchtete seinen Verstand zu verlieren? Oder versuchen sie sich in Ironie zu retten wie Goethe auf dem Campanile über Taschenkrebse räsonierte oder Hemingway, der im Dom ein Hollywoodkino sah?

In den Kanälen spiegeln die Facetten dicht gedrängter Fassaden - klein, verwinkelt, versteckt. Die Plätze schaffen in der Enge wieder Weite. Doch sie alle verblassen im Angesicht DER Piazza. Wo er ist, ist der Herzschlag Venedigs. Dieser Ort, an dem Sissi verschmäht und Mussolini bejubelt wurde. Seit dem 12. Jahrhundert in seinen Ausmaßen unverändert. Nur ein Schritt und schon steht man in einem Gemälde von Veronese oder Carpaccio. Ein begehbares Wunder. Wann kann man schon mal ein Gemälde betreten?

In den von der Gotik bis zur Renaissance umrahmten Schaufenstern thronen auf samtenen Dekolleltés diamantene Goldketten, wie die Terrassen auf den Dächern Venedigs. 32 Souvenirhändler mit Plastikgondeln, 8 Markusplatzfotografen mitsamt rollendem Computerstudio, 16 Markusplatzmaler, die ihre Staffeleien unentwegt neu vor dem immer gleichen Motiv arrangieren ohne dabei verrückt zu werden, 20 Muranoglasschlepper und eine Hand voll amtlich zugelassene Taubenfutterverkäufer. Sie verbrauchen den Charme der Goldmiene. Sie besetzen Markus.

Durch Venedig wie durch ein Museum führt einen eine Frau Mitte 40 mit rot-weißem Schirm von den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei zu bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Ein Ausflug der Touristen in die blattgoldene Ewigkeit der Markuskirche. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht und ihre Bedeutung verloren haben. Sind Glaube und Kunstgenuss zu vereinbaren?

In der Siesta, wenn die Schatten länger werden, versuchen Hobbyknipser das Zusammenspiel von Licht, Luft, Wolken und Wasser einzufangen. Die Sonne steht im Westen und lässt die Goldmosaiken der Markuskirche glitzern. Jenen Bruchteil einer Sekunde lang, in dem sich die Linse öffnet, mit nach Hause nehmen. Gibt es das digitale Glück?

Das Wasser drückt dich durch den steinernen Fisch in die Schleifspuren der Touristen. Bis zum Campanile glänzt das Pflaster feucht, wie vom Blut getränkt, das einst den Mamor vor dem höchsten Bauwerk Venedigs verfärbte als ein argentinischer Tänzer in die Tiefe stürzte. Es war 12 Uhr, die Glocken läuteten, er breitete die Arme aus und fiel wie ein Engel hinab.

In der Basilica wachen 25 Monsignores über die in Goldrausch verfallenen Menschenströme. Mehr oder weniger andächtige Augen saugen zwischen ~500 antiken Säulen 4.240 m² Mosaik in Kanzel und Kuppel auf. Spüren sie die Gegenwart der Gebeine des Evangelisten?

Auf der Terrasse des Caffé Quadri sitzt eine junge Japanerin mit Skizzenbuch und zeichnet Umberto, der hier seit 25 Jahren arbeitet und wie ein Zirkusdiregent 18,- Euro teuren Cappucino rechts und links durch die Tischreihen balanciert. Auch das Geld fliesst in Venedig. Die meisten Besucher fahren im 6er-Pack, eine Stunde mit "O sole mio!" jodelndem Gondoliere - ein bisschen Canale Grande, kleine Wasserstraßen, knipsen, winken, filmen. Ca d' Oro, Dogenpalastes, Campanile, San Marco, Tauben auf den Köpfen der Heiligen füttern, Abfahrt zur nächsten italienischen Stadt. Es fliessen die Grenzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Stehen wir inmitten einer Theaterkulisse oder ist das Wirklichkeit?

Graue Federkugeln sitzen im Gesims der Arkaden. Über den Platz wehen so viele Federn, als hätten die Dogen eine Kissenschlacht inszeniert.
Der abendlich erleuchtete Markusplatz glitzert wie eine Bühne. Einige Touristen wagen Walzerschritte zur Musik des Cafés Florian. Hermann Hesse beschrieb Venedig wie ein mildes, warmes Lied, wie die Verheissung einer Liebesnacht, wie ein tiefer Klang voll schwelgerischer Schönheit und leiser, zart genossener Melancholie. Der Mond schwebt über den Kuppeln der Markuskirche wie ein Zeichen des Orients. Der „schönste Festsaal Europas“, wie Napoleon ihn taufte, angefüllt mit Pfützen poetischer Ergriffenheit. Herrscht er noch heute über die Stadt?

Film/Henrike Terheyden/Venedig Lines

Handout/ Andrea Palladio/ Svenja Wolff

Andrea Palladio (1508-1580)
„Von all den Architekten, die vor unserer Zeit gelebt haben, ist Palladio wahrscheinlich der einflussreichste und bekannteste.“ - Howard Burns
Lebensdaten in Stichworten
●Geboren in Padua am 30. November 1508 als Andrea die Pietro della Gondola
●1521 Lehre als Steinmetz in Padua, Flucht und Übersiedelung nach Vicenca
●Seit 1524 Mitglied der Maurer- und Steinmetzzunft; Arbeit in der Werkstatt Pedemuro in Vicenca. Keine eigenständigen Arbeiten aus dieser Zeit bekannt.
●1534 Hochzeit mit Allegradonna, einer Zimmermannstochter; 5 Kinder
●Erster Mäzen Giangiorgio Trissino: Bringt ihm Architekturtheorie nahe; reist mit ihm nach Rom, gibt ihm den Namen Palladio
●1540 Palladio offiziell als Architekt bezeichnet. Es folgen viele Aufträge zunächst für den Bau von Profanbauten (Villen, Palazzos), sowie Brücken, öffentliche Gebäude und später Sakralbauten.
●ab 1550ern: enge Zusammenarbeit mit Daniele Barbaro
●1554 Veröffentlichung von Schriften über römische Architektur
●1570 erscheinen die Quattro Libri
●19. August 1580 Tod Palladios

Reisen: In seinem Bestreben, die bedeutendsten Bauwerke kennenzulernen, bereist Palladio viele Provinzen Italiens (Tivoli, Palestrina, Albano), Rom, Venedig, die Provence. Er vermisst, zeichnet und katalogisiert überall antike Bauten und ihre Überreste.

Einflüsse auf Palladio durch seine Zeitgenossen
Neben dem Studium der antiken Architektur wird Palladio ebenso stark von der zeitgenössischen Architektur geprägt: Sebastiano Serlio, Giulio Romano, Jacopo Sansovino, Alvise Cornaro, Donato Bramante, Michelangelo u. a.
Als (theoretische) Schlüsselwerke für den werdenden Architekten zählen vor allem das Vitruvs (1. Jh. v. Chr.) und Leon Battista Alberti (1404-1472)
Vitruvs „Zehn Bücher über Architektur“ ist die einzige überlieferte Schrift der Antike solcher Art. Er legt u. a. dar, dass die Tätigkeit des Architekten sich sowohl aus Handwerk als auch aus geistiger Arbeit zusammensetzt und sieht ihn somit als Künstler.
Alberti unternimmt mit seinem Buch „De re aedificatoria“ 1452 den Versuch, antikes Wissen um die Baukunst auf die Gegenwart zu übertragen. Er erfasste Wert und Wirkung der Architektur als Gehäuse, in dem sich soziales und religiöses Leben abspielten.

Palladios Mäzene
In der Renaissance fand das Mäzenatentum Eingang in die bürgerlichen Kreise. Durch die wirtschaftliche Entwicklung Italiens und den Handel seit Anfang des 15. Jh. entsteht eine wohlhabende Gesellschaft, die die Grundvoraussetzung für die Hinwendung zum Weltlichen und zur Wissenschaft der Renaissance bildet.
Architektur wird in dieser Zeit eng mit Machtansprüchen, Reichtum und Prestige verbunden und war ein Mittel, die Lebensweise und -qualität des öffentlichen und privaten Lebens zu formen.

Giangiorgio Trissino: Die Begegnung mit und Förderung durch den adeligen Dichter und Humanisten aus Vicenca war bedeutete die entscheidende Wende in Palladios beruflicher Entwicklung. Ohne Trissino hätte der damalige Handwerker niemals die kulturellen und intellektuellen Grundlagen erlangt, die Voraussetzung für sein Schaffen als Architekt waren. Durch Trissino lernte Palladio u.a. die antike und zeitgenössische römische Architektur kennen und die Schriften Vitruvs. Er spielte sicherlich auch eine entscheidende Rolle bei der Auftraggebung und Weiterempfehlung.

Daniele Barbaro: Der venezianische Patrizier arbeitet an einer neuen Übersetzung Vitruvs. Palladio illustriert und kommentiert die Übersetzung. Die enge Zusammenarbeit und das intensive Studium Vitruvs trägt zur Ausformung Palladios Architektursprache bei und gibt ihm Anregungen zu bestimmten Motiven (u.a. Tempelfront der Villen; zwei Stockwerke umfassende kolossale Säulenordnung)


Historischer Kontext
Die Renaissance

●1400-1600. Erstmals seit der Antike orientiert sich die Kunst am Naturvorbild (jedoch idealisiert). Formenwelt der Antike gilt hierbei als Vorbild
●das Streben, die diesseitige Realität zu erfassen
●“Die Entdeckung der Welt und des Menschen“: Von einem theozentrischen zu einem anthropozentrischem Weltbild. Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.
●Beeinflussung durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen
●Die Künstler versuchten, analog zur Wissenschaft, auch die Gesetze der Kunst zu erkennen und in Kunsttheorien zusammenzufassen
●Es wurde ein Monumentalstil geprägt, der auf antike Säulenordnungen zurückgriff und sie als Kolossalordnung über mehrere Geschosse ausbildete
●Nicht die Übernahme antikisierender Einzelformen, sondern die am Menschen orientierten Maßverhältnisse und Proportionen sind hier das Wesentliche

Der Veneto im 16. Jahrhundert
● 1509-1516 Krieg gegen die Liga von Cambrai. Festlandverluste Venedigs.
Seuchen, Hungersnöte. Wirtschaftliche Zerstörung des Veneto, Folgen bis in die 20er Jahre hinein spürbar. Zurückeroberungen Venedigs auf dem Festland.
●Folge: ab den 1530er Jahren starke Förderung des Aufbaus einer eigenen Landwirtschaft (Streben nach wirtschaftl. Unabhängigkeit). Bau vieler Wohnsitze der neuen Landbesitzer war vonnöten.

Palladios Werk

Die „Quattro Libri“ – die vier Bücher der Architektur (1570)
Diese Schriften machten Palladio schon zu Lebzeiten rasch über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt. Sie waren die erste so umfangreiche theoretische Grundlage, durch die sich in den folgenden Jahrhunderten die „palladianische“ Bewegung in der ganzen Welt verbreitete.
Palladio legt in seinen vier Büchern Regeln für Ordnungen, Raummaße, Treppen und Detailentwürfe fest. Er orientiert sich stark an Vitruv; setzt seine eigenen Studien der antiken Baukunst (in Theorie und praktischer Ausführung) jedoch in Verbindung mit der gegenwärtigen Baupraxis und entwickelt schließlich eine Systematik von miteinander in Beziehung zu setzender Elemente, die in ihrer Komposition durchgehend bestimmten Proportionen und Ordnungen folgen.
Buch I: Abhandlung über Vorgehensweise, Materialien und einzelnen Elementen eines Gebäudes
Buch II und III: eine Art Retrospektive seiner eigenen entwürfe von Stadtpalästen, Villen, öffentlichen Gebäuden und Brücken
Buch IV: Beschreibung römischer Tempel, die er eingehend studiert hatte

Palladianische Merkmale im Baustil
Drei wesentliche Dinge, die beim Bau beachtet werden sollten: 1) der Nutzen oder die Annehmlichkeit, 2) die Dauerhaftigkeit und 3) die Schönheit

„Schönheit entspringt der schönen Form und der Entsprechung des Ganzen mit den Einzelteilen, wie der Entsprechung der Teile untereinander und dieser wieder zum Ganzen, so dass das Gebäude wie ein einheitlicher und vollkommener Körper erscheint. Entspricht doch ein Teil dem anderen und sind doch alle Teile unabdingbar notwendig, um das zu erreichen, was man gewollt hat.“ - Palladio
„Dem aufmerksamen Beobachter wird der Unterschied zwischen dem palladianischen Architektursystem, in dem Struktur und Ornament, Funktion und Aussehen engstens miteinander verbunden sind, und dem Wunsch eines Konditors klar, der seine Torte mit einem noch dickeren Zuckerguss verzieren möchte.“ - Howard Burns
Die Bedeutung und Wirkung Palladios
Was unterschied Palladio von seinen Zeitgenossen und was machte ihn über Jahrhunderte hinaus so bedeutsam? Palladio hatte sich ab den 1550ern ein einheitliches Repertoire an Typen, Räumen und Formen für die Ordnungen erarbeitet. Er entwickelte eine eigene Systematik - eine „Grammatik aus Formen und Proportionen und ein geregeltes Vokabular an Motiven“ - die auf dem Zusammenspiel von sorgfältig bestimmten Elementen fußte und sich in ihren Proportionen an der Natur und den Gegebenheiten der Materialien orientierte.
Sein Einfluss beruht nicht nur auf seiner rationalen Architektur und klaren Formensprache, sondern auch auf dem Wert seiner Schriften.