Freitag, 20. Juni 2008

Raum dazwischen/ Janina Rohlik

Ein Text über Räume, Zwischenräume, Nicht-Räume, Tankstellen, Sprachen und Venedig.


Unterwegs nach Italien, nach Venedig.
Ab Anfang der letzten Maiwoche machen sich achtzehn Studentinnen und Studenten aus einer niedersächsischen Kleinstadt auf nach Norditalien./ Renaissance./ Kirchen./ Marien./ Die Flüge sind individuell gebucht und verdammt billig.//
Wir reisen per Anhalterin. Ich mag Dinge, die scheinbar nicht zusammenpassen wollen./ Würde ich fliegen käme ich mir gänzlich wie eine andere vor während dieser Tage.//

Eigenartiger Dämmer-Döse-Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen.
Das Auto fährt.
Neben der Autobahn türmen sich die grünen Bäume in langen Linien./ Radio; Werbung:
Was ist so breit wie meine Mama, so scharf wie meine Ex und so billig wie meine Witze?/
Ist ein Flachbildschirmfernseher.
- …
dämmere ganz gerne.//

Tankstelle./ Aussteigen/ Vielen Dank/ gute Fahrt noch/ Gepäck abstellen/ erstmal sitzen/ erstmal Toilette/ unter der Sperre durch ist Pinkeln umsonst/ erstmal Kaffee holen, ist und bleibt die größte Reiseinvestition/ erstmal rauchen./ Dann: weiter. Suchen/ fragen./ Zwischen weg und da an Orten, die überall sein könnten, weil sie überall gleich aussehen.//

Es ist schwül, der Himmel ist nicht himmelblau sondern ist blassblau bis blaugrau/ getrübt wie durch eine Milchglasscheibe denn der Wind bringt Wüstensand mit./ Sind Himmel manchmal ultramarinblau?/
Ultra mare/ = über dem Meer/ dort also vielleicht hängt das Ultramarinblau./ Wie gut lassen sich Farben pflücken?/ Himmelblass/ das Blau, das Ultra mare heißt/
Ist auch nicht leicht aus dem Kanalgewirr zu fischen/ dann, in Venedig/ Meer flutet bis zwischen die Häuser/ bringt ein Stück vom Ultra mare/ nicht viel/ reicht aber für die Mäntel der Madonnen/ die ganze Renaissance lang/ist doch schon mal was.//
Eine wunderschöne Sommernacht erwartet uns./…lauter Poesie aus dem Radio-Wetter-Bericht. Und diese Nacht können wir Poesie ganz gut gebrauchen.//

20.16 Uhr./
Wir fahren mit einem Österreicher nach Salzburg, dann geht der Weg weiter über Villach nach Venedig.
Ich war noch nie in Italien./
Plötzlich fahren wir den Bergen entgegen/ bleiche Schattenrisse in der Ferne/ Pappkulissen./
Bis Salzburg sind es noch 77 km.
Irgendwas an den Bergen ist schön./ schwierig Worte zu finden, dafür/ später ist auch an Venedig irgendwas schön./ Die Berge ziehen sich durch die Landschaft, sortieren alles, bilden Grenzen zwischen der einen und der anderen Seite. Können einsperren.//

Sind wir schon in Österreich?/
„So lange Sie noch Zwiebeltürme sehen, sind wir in Bayern.“/
Aber es gibt überhaupt keine Garantie:
So lange Sie hellen Sandstein, ornamentale Fensterbögen sehen, kleine Zinnen oben am Gebäuderand, sind wir im Orient.
- Wir sind aber in Venedig./
So lange Sie Paläste wie diesen sehen, mit einer Tür direkt zum Tempel, so lange sind wir bei König Salomo.
- Das ist aber nicht Salomos Palast, sondern der Dogenpalast. Das ist kein Tempel, das ist die Markuskirche./
Sind wir schon in Österreich?
Für mich hat das Andere schon begonnen, auch ohne überschrittene Grenze. Beginnt jeden Augenblick./
Was sind denn Grenzen?//
Später die gleiche Frage: Wo beginnt Venedig?/ Venedig heißen/ Venedig sein/ Was ist was?//

„Scusi…direzione Venezia?“/
Der erste Morgen in Italien:
Um 4.30 Uhr erwacht die Tankstelle; die LKWs lassen ihre Motoren an/ vor den bleichblauen Bergen: matte Sonnenscheibe, die neben dem Autogrill auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeht/ PKWs halten kurz vor unseren Füßen/ die sind noch in den Schlafsäcken//

5.00 Uhr./
Rossella kommt und beginnt im Autogrill direkt hinter unser Unmenegen von Croissants aufzubacken/ Tür bleibt zu/ noch kein Kaffee./ Wir rennen zum Aufwachen einmal um die Tankstelle//

Punkt 6 Uhr öffnet sich die Türe/ Entrata/ zu dem süß duftenden Backwerk und mit uns steht gleich eine ganze Reihe italienischer Arbeiter und LKW-Fahrer bei Rossella an der Theke/ für einen Kaffee/
Kaffee ist hier Espresso: sehr schwarz, sehr stark, sehr klein./ Fingerhutgroße Tassen, zur Hälfte gefüllt./ Und ich frage mich, ob sich im Charakter des Kaffees auch ein Stück Lebensart widerspiegelt oder umgekehrt: Ob der Kaffee die Einstellung zum Leben verändert?/ Dieser Kaffee hat etwas von einem Konzentrat./
Für alle ist es früh./ Alle: unterwegs zur Arbeit./ Aber die Stimmung ist gut/ wach/ (vielleicht macht das der Espresso)/ Bon giorno!/ aber keine Plätze haben die Autos für uns.//

Was heißt: „Fahren Sie nach…?“/ Gibt es hier in der Nähe einen Bahnhof und wo sind wir überhaupt genau? Nördlich oder südlich von Udine?/
Wir entschließen uns, die freundliche Rossella um Rat zu fragen. Rossella spricht auch Englisch. Sie ist teil dieses Zwischenraumes Tankstelle. Der Ort ist und Nicht-Ort, für uns kleiner norditalienischer Kosmos. Sie ist Teil des Raumes, der zwischen den Sprachen liegt, zwischen unserem unbeholfenen „scusi“ und dem schwungvollen Italienisch, das uns umgibt./
Rossella rät uns ein Taxi zu nehmen.//

Und plötzlich geht es ganz schnell und einfach: Ein Italiener mit großem ledergepolsterten Auto, madonnenmantelblaugetönter Sonnenbrille, Deutsch- und Englisch-Sprachkenntnissen, nimmt uns mit nach Venezia./ Radio:
Wir staunen über die rasante Geschwindigkeit dieser Sprache/
Empfang wird schlecht/ Rauschen/ klick/ aus/ klack/ ein/ CD: Eros Ramazotti./
Das erscheint mir etwas zu klischeehaft.//

Mittlerweile ist das Land wieder flach/ lassen die letzten Schattenrisse der Berge hinter uns./ Flach/ Felder, Wiesen, Wein/ Fabriken./ Im Norden Italiens ist die Industrie zuhause.//
Hinter der Madonnenbrille verbirgt sich ein Held unserer Zeit./ Kämpfer für Recht und Ordnung/ Schützer des Staates/ Mutig gegen die Mafia/ Position ermächtigt zur Personalienkontrolle/ Macht gegen Migration/
Das ist ein großes Problem in Italien./ Die Migration./ Die Rumänen, besonders./ Gehören jetzt ja auch zur EU./
Unsere Mitfahrgelegenheit ist Terrorbeauftragter am venezianischen Flughafen, zuständig für die Personenkontrolle./ Fast ist es also wie in der Renaissance geblieben./ Nur, dass weder Venedig, noch Italien Himmel ist für Ankommende./ Nur, dass die Pförtner heute selten Petrus heißen.//

8.00 Uhr morgens, Stadtrand, venezianisches Festland./
Stehe in dem kühl wirkenden Tankstellen-Café mit den roten Stühlen und den bunten Plastikblumen auf den Tischen./ Il Gazettino liegt auf einem der Tische/ Rissa tra studenti di sinistra e Forza Nuova – 4 feriti e 6 arresti dopo il raid „Sapienza“/ linke Studenten/ Schlägerei, Verletzte/ Festnahmen/ L’assembla degli studenti universitari dopo l’aggressione da parte di un gruppo di destra/ Rechte Studenten in Rom./

Vor einigen Tagen habe ich eine E-Mail bekommen: Pogrome gegen Roma in Norditalien/ daran denke ich. Und an/ die unglaubliche Greuel-Geschichte über eine junge Frau, angebliche „Zigeunerin“/ stahl angeblich ein Kind, ein italienisches, kein Zigeuner-Kind./
Die Menschen aus einem norditalienischen Dorf zünden die Hütten der dort lebenden Roma an./ Das ist nicht nur eine Geschichte./ Alles brennt nieder./
Nelle ex caserne i nuovi centri per gli immigranti/
Migration ist ein Problem in Italien. Sagt der Held mit der Madonnenbrille. Sagt Il Gazzettino, die Zeitung. Sagen die Zeitungen. Nicht nur in Italien, auch in Österreich, auch in Deutschland./
Was ist denn Migration? Was ist das Problem?
I kommt aus Chemnitz, ich aus Heilbronn. Ost und Süd und beide wohnen wir in Mitte/ Norden/ Binnenmigration.//

Ich denke an die Freunde, die ich im letzten Sommer in Rumänien gefunden habe./ J und C in Craiova/ hässliche, arme Industriestadt/ C’s Vater arbeitet, lebt/ Halbzeit/ in Italien: da gibt es Arbeit und deshalb Geld./ Transmigration/
Centri per gli immgranti clandestini//

13.00 Uhr./
Wir sitzen am Rande der Fabriken Porto Margheras./ „Es ist warm, es ist laut, es ist dreckig“, sagt I./
Außerdem ist Mittagspause oder Schichtwechsel. An der Frittenbude sind die Fritten aus und unsere Mägen bleiben leer, denn das Wort vegetarisch ist hier pure Exotik./
Zu Mittag soll es satt und kräftig machen. Es gibt Fleisch. Traditionelles mit Fast-Food-Einschlag oder Fast Food mit traditioneller Note. Dazu Bier./
Und dann Kaffee und Zigaretten, aber die gibt es sowieso für alle Pausen. Das ist hier nicht anders als irgendwo sonst/ Zwischenraum: Pause./ Kenne ich selbst./
Nur: Hier fühle ich mich: Allein unter Männern./
Sie sind alt und jung und zwischendrin. Sie tragen Sicherheitsschuhe an den Füßen und Handschuhe in den Hosentaschen und gelbe Helme am Gürtel./ I meint: „Diese Helme faszinieren mich irgendwie.“/ Manche tragen Blaumänner/ (sollten die in Venedig nicht lieber Blaumadonnen heißen?)/ andere nicht. Zwei fallen mir auf, weil sie Blaumänner tragen, die keine sind, denn sie sind weiß./
Weißmänner?//
Die Giftfabriken von Porto Marghera./
Wir laufen über das Industriegelände, Richtung Hafen, auf dem Rücken das Gepäck, im Nacken die schwüle Hitze, ab und zu ein Windhauch./ „Grüß Gott!“/ kommt unvermittelt aus einem Fabriktor/stehen bleiben/ sprechen/ zuhören/ wieder einer zwischen den Räumen/ arbeitet nicht hier/ transportiert nur, zwischen hier und Österreich/ Schöne Stadt Venezia, nicht?//

16.15 Uhr./
Venedig, Mestre, nahe der Piazzale Candiani. Nach dem Markt/
Nicht nur die Blätter und weißen Schneeblüten flattern über den Platz sondern auch Plastiktüten, Papier, verloren gegangene Einkaufszettel und Gedanken/
„Ob das die sind, die zu oft schwarz gefahren sind?“, fragt I, selbst schon zur Schwarzfahrerin in Venedig geworden, als ein Trupp von Stadtreinigern in neongelben Westen eintrifft und auf dem Platz ausschwärmt./ Keine Laubblasgeräte. Hier wird, ganz romantisch, mit Reisigbesen gefegt./ Wir picknicken italienische Köstlichkeiten und sehen uns eine Photoausstellung an./ 60er Jahre in Schwarz-Weiß. Es gibt ein paar Hinweistafeln aber nur auf Italienisch und so bleibt die Geschichte Mestres nebulös./ Soviel aber ist sichtbar: Kinder, Arbeiter, Kommunisten./
Auf der Piazzale Candiani fangen zwei Jugendliche an, Break Dance zu üben. Etwa eine Stunde lang fangen sie damit an. Machen Aufwärmübungen. Hören damit auf, reden. Sie trägt ein verwaschenes T-Shirt und eine weite Hose und lange Zöpfe und fasziniert mich. Ihr Telefon klingelt, er bekommt eine Zuschauerin, blond gelockt und rausgeputzt, die eine Weile dasteht und schaut und nicht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll und deplaziert aussieht. Und schließlich wieder geht. Jedenfalls kommen sie nicht wirklich zum Tanzen und überhaupt wirkt alles so ein bisschen schwierig und kompliziert./
Wir stehen im offenen Treppenhaus über der Piazzale und schauen den beiden zu. Und schauen und schauen und denken uns ihre Geschichte aus und sind ganz gefesselt./ Es dauert lange, bis wir uns auf den Weg zum Bus machen./ Jetzt kommt Venedig, die Insel.//

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