Freitag, 20. Juni 2008

Hanna/neuer endgültiger Text/Juni'08

mein neuer text handelt von menschen in venedig im allgemeinen - er nimmt auch bezug auf meine markusplatz-mosaike und andere bilder, die ich ausstellen möchte


Menschen Venedigs - Einheimische vs. Touristen?

Venedig – das ist nicht nur das Wasser der Lagune, das die Pfahl- & Steinmasse zärtlich umspült. Eine eifersüchtige, zermürbende Zärtlichkeit, die dem Objekt seiner Begierde langsam den Boden unter den Füßen entzieht.
Venedig – das sind auch die Menschen: Menschen, die hier geboren sind, & andere, die später nach Venedig finden. Menschen, die hier leben, Menschen, die hier Urlaub machen, Menschen auf Stippvisite. Menschen, die geschäftlich hier sind: Business-Typen. Oder Künstler: Schriftsteller, Schauspieler, Maler & Musiker, die sich von ihrer Liebe zu dieser Stadt inspirieren lassen. Hier atmet Kultur aus jeder Mauer, von der der Putz langsam abbröckelt & die dadurch umso liebenswerter erscheint. Privilegierte Menschen, die eine neue Wahlheimat gefunden haben und einen Teil des Jahres, des Lebens hier verbringen dürfen.
Andere bleiben nur kurz & verlassen die Stadt mit Wehmut – Touristen.
Sie kommen mit dem Auto, dem Bus, dem Zug, dem Flugzeug oder über das Meer – in einer eigenen Yacht, einem Segelboot, oder per Kreuzfahrtschiff: Venedig als kurzfristige Station einer Reise, auf der sich die Eindrücke zu vieler Städte in zu schneller Abfolge miteinander kreuzen – das klingt nach Blasphemie, Verrat an der „Serenissima“, der allerdurchlauchtigsten aller Städte.
Italo Calvino sagte: „Jedesmal, wenn ich dir eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig... Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muß ich von einer ersten Stadt ausgehen, die inbegriffen ist.“
Venedig als Ur-Stadt? Venedig als Pracht, an der sich, wenn man sie einmal erfahren hat, alle anderen Städte messen müssen. Eine undankbare Rolle für die meisten anderen Städte.
Eine Pracht, von der man aber auch Erholung braucht. Venedig ist zu schön um wahr zu sein & schmerzt gelegentlich.
Leidenschaft ist es, die viele Menschen nach Venedig zieht, & wenn man sie vorher nicht gefühlt hat, dann erfährt man sie hier.
So viele Menschen. Aus allen Ländern, von allen Kontinenten. Alle Alter, alle Hautfarben, alle Kombinationen: Allein-Reisende, Paare, Familien, Gruppen: Schulgruppen, Seniorengruppen, andere Gruppen.
Zu viele Menschen. Manchmal denke ich sie mir weg. Wünsche mir, diese Gasse, diesen Platz für mich alleine zu haben. Wünsche mir, diese Stadt zu kennen, wie meine Westentasche: jede Calle, jede Ponte, jeden Campo. Frage mich – wie wäre es, hier geboren zu sein?
Wie ist es, hier geboren zu sein? Die Eingeborenen sind auf der Straße schwer auszumachen. Aber diese alte Frau, die von einer andere Frau über die Brücken geführt wird – die wird doch hier geboren sein? Oder dieser alte Mann, den eine Frau durch die Gassen von Guidecca schiebt – der lebte schon immer hier, und wird hier auch sterben? Und diese beiden Männer, die sich in einer engen Gasse freundlich im Vorbeigehen grüßen und im Weitergehen die Neuigkeiten des Tages austauschen, die haben früher schon als Kinder zusammen auf dem Campo San Polo Fußball gespielt?
Der alte Mann, mit dem ich mich auf der Bootshaltestelle von San Erasmo unterhielt, erzählte mir: Ich war Gondoliere. Ja, ich bin hier geboren. Jetzt sind meine beiden Söhne auch Gondolieri.
Ein alter Berufsstand, den es nur in Venedig gibt. Neue Lizenzen werden nicht vergeben, erzählt ein Tourist vor der Seufzerbrücke seiner Frau, der Beruf wird weiter vererbt. Wo gibt es denn sowas noch? Wie kann man eine Stadt, die viele solcher Eigentümlichkeiten beherbergt, überhaupt mit anderen Städten vergleichen? Ich kann es nicht.
Die Einwohner schwinden, nicht jeder kann Gondoliere sein, und soviel andere Arbeit gibt es hier nicht. Genau so wenig sind alle, die hier arbeiten, Einheimische. Allen voran die Schwarzen, die in überfüllten Booten über das Meer nach Italien kamen, illegal, und nun aus Plastiksäcken heraus Plagiat-Handtaschen verkaufen, illegal. Aufgereiht stehen sie vor allem an der Riva degli Schiavoni, Uferpromenade zwischen Markusplatz & den Giardini, das billige Angebot ausgebreitet auf Plastikplanen, die bei Gefahr, schnell an allen vier Ecken genommen, zum Sack werden und die Hehlerware verbergen. Wenn der erste in der Reihe hört, dass Ordnungsbeamte nahen, packt die ganze Reihe eilig ein, flieht & sucht sich einen neuen Platz.
Wie fühlt sich einer, der in Venedig geboren ist & dann wegziehen muss? (Ein Luxusproblem? Venedig ist ein Luxus, auf den man nicht mehr verzichten kann ...) Schlimmstenfalls nach Mestre, der hässlichen Schwester der schönen Stadt, die gleich gegenüber am Festland liegt. Wo Industrieschornsteine statt Kirchtürme in den Himmel ragen & wo man in Mietskasernen lebt statt in Palazzi. So nah an Venedig, zum Greifen nah & doch weltenweit entfernt.
Wie fühlt man sich als Eingeborener Venedigs, wenn man in den Gassen der Stadt nur Fremden begegnet? Die wie eine Invasion vom Himmel fallen oder über das Meer kommen. Ein Heer, eine Streitmacht, die Anspüche auf Venedig erhebt: hier, ich habe diese Reise gekauft, & jetzt will ich auch ein Stück von Venedig haben. Aber wenn Tausende ein Stück wollen, und wenn es allen so gut schmeckt, dass sie ein zweites und drittes Stück nehmen, was bleibt dann noch übrig?
Reservate für Eingeborene, entlegene Stadtteile, Gassenzüge ohne Frari-Kirche oder Rialtobrücke, in denen Eingeborene Caffè trinken, & garantiert keinen Caffè Americano. Da sitzen sie an einer unspektakulären & dennoch schönen Fondamente, irgendwo in Cannaregio, kauen an ihren Fingernägeln, jenseits der Anderen, die durch ihre Objektive ein Motiv nach dem anderen erlegen.
Und wenn sie raus wollen aus ihrem Stadtteil? Bleibt ihnen die Linie 3, für Touristen verboten, die daran erinnert werden: die Stadt ist nicht ganz in euer Hand & unter euren Füßen.
Oder die, die hier Arbeit gefunden haben, schwere Wagen vor sich her schieben, über eine Brücke nach der anderen, schaffen sich durch energische Warnrufe einen Weg durch schlendernde Touristen.
Rolling Venice – eine Gesamtattraktion wie Venedig muss am Laufen gehalten werden. Alles was da ist, für Hotels, Geschäfte, Einheimische & Touristen, muss hierher gebracht & verteilt werden, ohne LKWs. Und so sieht man auf den Kanälen nicht nur schwarze Gondeln, die Touristen tragen, sondern ebenso viele Motor- & Lastboote. Die einen bringen eine neue Waschmachine, in einem anderen macht sich ein junges Paar auf zu einem Ausflug auf eine ruhigere Insel der Lagune, die Erholung verspricht von der Mutterinsel. Eine Löwenmutter, die die anderen Inseln schützend unter ihre Flügeln nimmt, & sie gleichzeitig von dem eigenen Glanz abschirmt. Eine prächtige Löwin, aber ohne feste Pranken, ohne Bodenhaftung, und auch die Schwingen sind nicht flugtauglich.
Tiere Venedigs – Kühe, Hühner, Schweine gibt es nur auf dem Teller. Löwen nur in Stein & Legenden. Pferde nicht mal in Standbildern. Tauben gibt es, unzählige, vor allem auf dem Markusplatz. Möwen gibt es, denn dies ist eine Stadt am Meer, wenn auch nur indirekt. Katzen gibt es nur wenige. Wenn, dann wurden sie systematisch kastriert oder auf anderen Inseln ausgesetzt. Hunde gibt es, überwiegend kleinere Rassen, aber keine Dackel, denn die können nicht gut Brücken steigen. Hunde, die Kot hinterlassen – vom verantwortungsvollen Halter im Plastikbeutel mitgenommen, vom wenigstens beschämten mit einem Stück Zeitung überdeckt und umso tückischer, wenn man ahnungslos drauf tritt. Ab der Dämmerung gibt es auch Fledermäuse, deren Schwingen & Schwirren man zwischen den eng zusammenstehenden Gebäuden vibrierend vernehmen kann, wie ich mir des öfteren einbildete.
Zurück zu den Menschen - Menschen Venedigs: Einheimische vs. Touristen? Es tun sich zwei Parallelwelten auf, habe ich gehört. Und man erfährt es auch, etwa wenn man zu einem gehobenen Preis einkauft, oder eben, wenn einem die Fahrt mit der Linie 3 verwehrt wird.
Venedigs Menschen – das sind nicht nur die Menschen von heute, die von morgen, die übermorgen wieder abreisen – das sind auch die Menschen von gestern. Ganz gestern, Menschen aus längst vergangenen Epochen. Menschen, die die Gemälde Canalettos bevölkern – Menschen mit anderem Erscheinungsbild, anderem Zeitgefühl, anderen Möglichkeiten.
Imaginierte Menschen: Don Juan oder Gustav von Aschenbach, der den Tod in Venedig fand.
„Menschen“, die nie in Venedig waren, aber omnipräsent sind: heilige Menschen, allen voran Maria & das Jesuskind, in den Gemälden Bellinis oder Tizians.
Dogen, die die Macht Venedigs verkörperten. Händler, die den Orient ins Abendland brachten. Weltreisende, die es aus Venedig raus trieb um es mit anderen Städten und Ländern zu vergleichen – Marco Polo. Adlige, die sich Paläste am Canal Grande bauten.
Und andere Namen, die ewig bleiben: Gabrieli, Monteverdi, Vivaldi – Menschen, die Venedig & all seine Pracht vertont haben – auch wer Venedig nie gesehen hat, kann seine Schönheit in einem Violinkonzert oder einer Oper dieser Meister nachempfinden.
Menschen Venedigs – Einheimische vs. Touristen? Nein, auf den Gassen & Kanälen Venedigs herrscht kein Krieg. Hier fliegen keine bösen Blicke wie Pfeile durch die Luft. Es ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander, mindestens ein Nebeneinander - man braucht sich.
Hier & da lächelt ein Venezianer einem Fremden müde hinterher, nicht verachtend, sondern bedauernd: ich lebe hier, doch du bist morgen wieder fort ... arme Seele ... doch nimm dir ruhig ein Stückchen meiner Stadt mit, denn ich kann all diese Pracht unmöglich allein (er)tragen.
Und überhaupt, das spürt hier auch der Ungläubige: was Gott gegeben hat, das soll man teilen.

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