Montag, 16. Juni 2008

160608/ Marion Starke/ 1000 Füße auf dem Markusplatz

Ich habe mehrere Baustellen. Hier ein Touristen-Text, den ich momentan noch überarbeite. Ich überlege eine andere Erzählperspektive einzubringen.

Millionen Füße auf dem Markusplatz

Millionen Schuhsohlen reiben die Pflastersteine blank. Millionen Hände schmirgeln den Marmor der zwei Säulen auf der Piazzetta dei Leoncini glatt. Was mögen sie denken, in jenem magischen Moment, an dem sie zum ersten Mal ihren Fuß auf den Platz setzen? Geht es ihnen wie dem Schriftsteller Julien Green, der befürchtete seinen Verstand zu verlieren? Oder versuchen sie sich in Ironie zu retten wie Goethe auf dem Campanile über Taschenkrebse räsonierte oder Hemingway, der im Dom ein Hollywoodkino sah?

In den Kanälen spiegeln die Facetten dicht gedrängter Fassaden - klein, verwinkelt, versteckt. Die Plätze schaffen in der Enge wieder Weite. Doch sie alle verblassen im Angesicht DER Piazza. Wo er ist, ist der Herzschlag Venedigs. Dieser Ort, an dem Sissi verschmäht und Mussolini bejubelt wurde. Seit dem 12. Jahrhundert in seinen Ausmaßen unverändert. Nur ein Schritt und schon steht man in einem Gemälde von Veronese oder Carpaccio. Ein begehbares Wunder. Wann kann man schon mal ein Gemälde betreten?

In den von der Gotik bis zur Renaissance umrahmten Schaufenstern thronen auf samtenen Dekolleltés diamantene Goldketten, wie die Terrassen auf den Dächern Venedigs. 32 Souvenirhändler mit Plastikgondeln, 8 Markusplatzfotografen mitsamt rollendem Computerstudio, 16 Markusplatzmaler, die ihre Staffeleien unentwegt neu vor dem immer gleichen Motiv arrangieren ohne dabei verrückt zu werden, 20 Muranoglasschlepper und eine Hand voll amtlich zugelassene Taubenfutterverkäufer. Sie verbrauchen den Charme der Goldmiene. Sie besetzen Markus.

Durch Venedig wie durch ein Museum führt einen eine Frau Mitte 40 mit rot-weißem Schirm von den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei zu bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Ein Ausflug der Touristen in die blattgoldene Ewigkeit der Markuskirche. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht und ihre Bedeutung verloren haben. Sind Glaube und Kunstgenuss zu vereinbaren?

In der Siesta, wenn die Schatten länger werden, versuchen Hobbyknipser das Zusammenspiel von Licht, Luft, Wolken und Wasser einzufangen. Die Sonne steht im Westen und lässt die Goldmosaiken der Markuskirche glitzern. Jenen Bruchteil einer Sekunde lang, in dem sich die Linse öffnet, mit nach Hause nehmen. Gibt es das digitale Glück?

Das Wasser drückt dich durch den steinernen Fisch in die Schleifspuren der Touristen. Bis zum Campanile glänzt das Pflaster feucht, wie vom Blut getränkt, das einst den Mamor vor dem höchsten Bauwerk Venedigs verfärbte als ein argentinischer Tänzer in die Tiefe stürzte. Es war 12 Uhr, die Glocken läuteten, er breitete die Arme aus und fiel wie ein Engel hinab.

In der Basilica wachen 25 Monsignores über die in Goldrausch verfallenen Menschenströme. Mehr oder weniger andächtige Augen saugen zwischen ~500 antiken Säulen 4.240 m² Mosaik in Kanzel und Kuppel auf. Spüren sie die Gegenwart der Gebeine des Evangelisten?

Auf der Terrasse des Caffé Quadri sitzt eine junge Japanerin mit Skizzenbuch und zeichnet Umberto, der hier seit 25 Jahren arbeitet und wie ein Zirkusdiregent 18,- Euro teuren Cappucino rechts und links durch die Tischreihen balanciert. Auch das Geld fliesst in Venedig. Die meisten Besucher fahren im 6er-Pack, eine Stunde mit "O sole mio!" jodelndem Gondoliere - ein bisschen Canale Grande, kleine Wasserstraßen, knipsen, winken, filmen. Ca d' Oro, Dogenpalastes, Campanile, San Marco, Tauben auf den Köpfen der Heiligen füttern, Abfahrt zur nächsten italienischen Stadt. Es fliessen die Grenzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Stehen wir inmitten einer Theaterkulisse oder ist das Wirklichkeit?

Graue Federkugeln sitzen im Gesims der Arkaden. Über den Platz wehen so viele Federn, als hätten die Dogen eine Kissenschlacht inszeniert.
Der abendlich erleuchtete Markusplatz glitzert wie eine Bühne. Einige Touristen wagen Walzerschritte zur Musik des Cafés Florian. Hermann Hesse beschrieb Venedig wie ein mildes, warmes Lied, wie die Verheissung einer Liebesnacht, wie ein tiefer Klang voll schwelgerischer Schönheit und leiser, zart genossener Melancholie. Der Mond schwebt über den Kuppeln der Markuskirche wie ein Zeichen des Orients. Der „schönste Festsaal Europas“, wie Napoleon ihn taufte, angefüllt mit Pfützen poetischer Ergriffenheit. Herrscht er noch heute über die Stadt?

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