Dienstag, 17. Juni 2008

Textentwurf/Jennifer Fandrich

Hier die überarbeitete Version, leider immer noch nicht ganz so fertig...




Tor-ohne-Schuss-aber-mit-geheim-Panik oder Man reist ja nicht, um anzukommen.
Den richtigen, den persönlichen Zugang zu einer Stadt finden: Wie?
Schreiben, Soundscapes, Skizzen und Wirklichkeit mit Fotos abbilden.
Versuche.

Durch die Gassen laufen, Brücken überqueren, Bilder betrachten und beschreiben, auf Plätzen stehen und versuchen, ein GEHEIMES TOR zu finden, das einen in die Stadt bringt, die alle Geheimnisse nur für einen persönlich bereithält.

Wir laufen auf Steinen, stone by stone, Millionen. Damit wir nicht im Schlick, im stinkenden Morast versinken, wurden Lärchen, Erlen, Ulmen, Eichen, Kiefern mit der Spitze voraus in den Boden gerammt. Wie hält das? Immer wieder die gleiche Frage. Luftleerer Raum versteinert das Holz, das Holz wird zu Stein, der die Stadt trägt. Noch.

Wir gehen über Brücken, die die Gassen zusammenhalten und verbinden, gehen geschwungen über Wasser, das angeblich einen eigenartigen Geruch hat und schmutzig ist. Den Geruch erahne ich nur nachts, wenn das Wasser still steht und der Touristen- und Venezianer Verkehr auf Booten und Gondeln ruht.

Wir betrachten Bilder, wir versuchen sie zu be- und umschreiben. Kein Tizian, kein Tintoretto, kein Carpaccio und auch kein Bellini ist vor uns sicher.

Campo S.Polo, Piazza S. Marco, Campo S.Margherita, Piazzale Roma.
Aber WO IST DAS TOR?

„Fährt man aber den Canal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein.“ sagt Georg Simmel.
…..

Man reist ja nicht, um anzukommen.

Venedig mit hinüberretten nach Hildesheim. Etwas mitnehmen von dem Mythos lautet die Maxime. Einen Text schreiben, der den persönlichen Zugang schafft und gleichzeitig einen kunstwissenschaftlichen Kontext hat. Viele Ideen, einige Ansätze, weniger Umsetzungen.

Aus Erinnerung heraus schreiben, aus Erinnerung und Vergegenwärtigung heraus einen Ansatz finden, erinnernd das geheime Tor finden. Re: scrivere und Re: zurück. Mit dem Vergangenen konfrontieren und dadurch die Gegenwart aktualisieren.

Mir stellt sich die Frage: Wie haben das die Künstler gemacht, die einen kurzen Aufenthalt in Venedig hatten und dann, zurück in der Heimat, Skizzen vervollständigt, Aquarelle in Ölgemälde umgesetzt haben? Welche Rolle spielen Erinnerungen, Bildgedächtnis, Idealbilder?

Mir fallen viele ein: Turner, Monet u.v.m., die ganzen großen europäischen Künstler des 19. Jahrhunderts, die in Venedig waren, sich inspirieren ließen, nicht abbilden wollten und schließlich doch die Stadt ständig reproduzierten. Statt ein Urteil über die Stadt abzugeben, beschrieben und analysierten sie erste Eindrücke. Die Stadt war nie ganz wirklich.

Joseph Mallord William Turner war drei Mal in Venedig: 1819, 1835 und 1840 war dann seiner letzter Aufenthalt. Es bleibt offen, ob die Stadt für ihn reine Schönheit repräsentierte, wie es der Großteil seiner Bilder andeuten, oder auch als Symbol für Verfall gesehen wird, wie es das Zitat zu seinem Gemälde „The Sun of Venice going to Sea“ andeutet:
„Hell scheint der Morgen, sanfte Lüfte wehn,
Venedigs Fischer heiter spannt sein buntes Segel heute,
Und achtet nicht des Dämons, der in grimm`ger Ruhe,
Schon auf der Lauer steht, nach des Abends Beute.“
Die Bedeutung des Bildes offenbart sich schnell: Die Besatzung des Fischerboots „Sun of Venice“ segelt frohen Mutes aufs Meer hinaus und ahnt noch nicht, dass es abends untergehen wird. Diese Thematik entspricht natürlich der Venedig-Thematik des Unterganges, die ruhmreiche und glanzvolle Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Einige Aquarelle schuf Turner, noch ehe er Venedig 1819 das erste Mal besuchte. Ein vorab gemachter erster Eindruck. Eine Illusion. Er nutzt Erinnerungen, die nicht die seinen sind, es sind Bilder aus dem großen Bild-Gedächtnis, das es über Venedig schon seit Jahrhunderten gibt. Der erste Aufenthalt soll maximal fünf Tage gedauert haben, entspricht etwas unserem Studienfahrtsaufenthalt, da erscheint die Produktion von 125 Bleistiftskizzen und 4 Aquarellen schon sehr umfangreich. Er zeichnete Konturen, er vermied die genaue Beschreibung der Form eines Objekts. Die Bilder wirken schwerelos, sind nicht greifbar. Sie bilden viel ab, nur keine Wirklichkeit. Sie zeigen Umrisse, deuten Farben an, zeigen den schnellen Pinselstrich.

Turners Zeitgenossen nehmen zu Anfang des 19.Jahrhunderts Anstoß an seiner ungewohnten Malweise, sie kritisieren seinen freien Umgang mit formalen Mitteln, seine freie Abbildungweise.
Als Turners größter Verteidiger trat dann John Ruskin auf die Bühne, der schon als 17jähriger Turners Werke emphatisch verteidigte und später mit seinem Werk „Modern Painters“, das 1843-1846 veröffentlich wurde, in einer Hymne auf die Schönheit und Kraft der Natur sowie auf die Stimmungen in Turners Werk Turner verteidigte und interpretierte. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Venedig 1841 dachte er ständig an seinen Modern Painter, er begann sich mit Turner Sehweise zu identifizieren:
„Im Zwielicht schob sich eine schwere Gewitterwolke über den Dogenpalast, und endlose Blitze, noch ohne Donner, zuckten hinter seinem First auf, wie Feuerwerksraketen aus dem Rauch über St.Angelo in den Himmel schießend, um über dem Lido niederzugehen; dabei erhellten sie die edle Gruppe der Salute und tauchten sie in bläuliches Spektralweiß; jeder Blitz berührte sie mit schwebender, geheimnisvoller Anmut – wie sie Turners Werken eigen ist: und hoben die Umrisse der Kuppel dunkel gegen den von Blitzen erhellten Himmel ab.“
Das Zitat könnte in Anlehnung an Turners „Gewitter auf der Piazetta“entstanden sein. In späteren Jahren, als Ruskin mit der Arbeit an seinem Buch „Stones of Venice“ begann, wandte sich Ruskin anderen Themen zu und Turners Bilder „waren gar nur noch angenehme Ablenkung“.
……….

Zurück zu der Frage nach der Erinnerung in Turners Bildern: Einige seiner Werke entsprechen seiner Vorstellungskraft, seiner Idealansicht von Venedig und seinem Stimmungsgehalt, sie sind nicht direkt vor dem Motiv entstanden. Beispielsweise gibt sein „Blick von der Giudecca nach Osten am frühen Morgen(?), 1819“ einige Rätsel auf: Die Topografie findet sich weder in Venedig noch in der Lagune, der hohe Turm könnte der Campanile von San Marco sein, während der Umriss der Bauten vor dem Horizont auf das Ufer der Bucht von der Piazetta bis zur Kirche Santa Elena hinweist, doch selbst dann stimmen viele architektonische Details nicht. Es lässt sich annehmen, dass Turner einen Sonnenaufgang malte und dann seine idealisierte, kompakte Venedig-Ansicht aus dem Gedächtnis hinzufügte.
Es ist nicht mehr die reine Abbildung der Stadt, die Canaletto, Venedigs bekanntester Vedutenmaler, anstrebte. Turner malt aus Erinnerungen, aus eigenen und aus dem großen Pool des Bildgedächtnisses Venedigs; er benutzt im Kopf entstandene Idealbilder, geprägt, von dem, was er sieht und seinem Wunschbild der Stadt.

DA IST DAS TOR, endlich, ich habe es gefunden: es ist Turners Blick auf die Stadt in seinen Aquarellen: Konturen auf Farbflächen, kein Gewicht, Formen, die zerfließen, die sich abschotten, die Stadt nicht greifbar machen. Es gibt kein vollständiges Bild mit allen Details, es sind Facetten, erste Eindrücke, immer wieder bestätigt. Licht und Luftbewegungen sind exakt.

Skizzen sind unvollständig, Gondeln werden wieder übermalt, sind aber trotzdem noch zu erkennen unter einer blaulila-Wasserfarbschicht. Ja, das ist Venedig für mich: Es vergeht und zerfließt, es zerfällt und gleichzeitig ist es ohne Zeit, auch zeitlos, ist immer da und wird nie neu. Nur die Sicht der Menschen verändert sich, die Stadt bleibt bis auf abbröckelnden Putz und mit Hochwasser vollaufende Erdgeschosse immer gleich.

Unvollständige Bilder sind das Bildwerk Turners über Venedig, unvollständige Skizzen sind meine Erinnerungen an Venedig.

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