Samstag, 14. Juni 2008

postvenedig/ endgültiger text/ svenja wolff/ das zeitlose suchen

Neue Fassung, Montag, 23.6.


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Das Zeitlose suchen


Zwischen Geschichte und Gegenwart liegt die Stadt. Ist ganz Venedig ein Museum?
Was machen die Bilder mit uns? Was machen wir mit den Bildern? Wäre irgendetwas denkbar ohne Kunst? Wäre irgendetwas denkbar ohne Geschichte?


Vom Ufer der Riva, vom Dogenpalast aus, blickt man über das grüngraue Wasser der Lagune auf die strahlend weiße Kirche San Giorgio Maggiore. Istrischer Marmor. Kolossal steht sie da, in ihrer konsequenten Symmetrie, die Handschrift Andrea Palladios deutlich lesbar.
In ihr vereint, das Zitat zweier antiker Tempelfronten, übereinander gesetzt und zu einer Fassade verschmolzen. Massive Säulen treten aus ihr hervor, Giebel zeichnen sich ab.
Gekrönt von fünf Statuen, mit Zahnfries und korinthischen Kapitellen versehen, ist sie verziert und dennoch in ihrer Struktur ganz klar und deutlich.

In Venedig ist das Vergangene die Gegenwart. Man ist umgeben von jahrhundertealten Steinen, Gemäuern, Gebäuden, wird eingehüllt von der Geschichte, in Form von unzähligen Gemälden, verzierten Fassaden, Säulen, Reliefs, architektonischen Meisterwerken. Alles aus längst vergangener Zeit, und nicht nur im Fall Palladios, sich sogar damals schon auf Vergangenes beziehend.

Andrea Palladio. Einer der bedeutendsten Architekten der Vergangenheit. Und der Gegenwart? Zu seinen Lebzeiten und über sie hinaus war er es. Die Gunst der Renaissance - dem Lebenswandel zum Weltlichen im 16. Jahrhundert - hat er es zu verdanken, dass seine Villen auf dem Festland sich äußerster Beliebtheit freuten, und ihm schließlich auch Aufträge in der edlen, mächtigen Stadt einbrachten. Wie besessen erforschte und zeichnete er alte, römische Tempel und las die Schriften Vitruvs, um die Essenz der antiken Baukunst herauszufiltern und die seinige mit ihr anzufüllen.

Was erzählt sie heute, die alte San Giorgio? Was erzählt sie den Menschen, die mit dem Vaporetto übersetzen um zu ihr zu gelangen, sich ihr langsam übers Wasser nähern, bis sie vor ihr stehen, auf warmem glattem Stein. Sind sie beeindruckt von ihrem Konstrukt? Von ihrer Massivität? Oder lockt sie nur der Glockenturm alias Aussichtsturm? Wissen sie etwas vom Architekten und seiner Zeit? Wollen sie es wissen?
Wie beeindruckt sie ein alter Sakralbau, wenn es doch so viele gibt? Höher, schneller, weiter, präziser sind die Errungenschaften der Gegenwart allemal, möchte man meinen. Wo berührt das Vergangene die Gegenwart?


Während Palladio mit dem Bau seiner San Giorgio beschäftigt war, erschuf in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein anderer Meister, mit Namen Paolo Veronese, ein ähnlich kolossales Werk - das Gastmahl im Hause des Levi, 5,6 x 13,09 Meter, Öl auf Leinwand.
Das Bild wird dominiert von drei riesigen, zierreich gemalten Arkadenbögen, unter denen sich eine wilde Szene abspielt - ursprünglich das Abendmahl, bei Veronese aber zu festlichem Chaos umgestaltet.

Die Dinge wiederholen sich. Die Motive der Gemälde werden immer wieder aufgegriffen, meist sind sie der Bibel oder antiker Mythologie entlehnt. Verkündigungsszenen. Kreuzigungsszenen. Heiligendarstellungen. Heiligenzyklen. Madonnen. Pietà. Sacra Conversazione, Abendmähler, Gastmähler.
Die Architekten taten es nicht anders, als sie anfingen, die Formensprache der Antike wiederaufleben zu lassen. Und selbst die taucht auch bei Veronese im Hintergrund wieder auf.


In der Mitte: Jesus. Um ihn herum: die Jünger und noch ca. 40 andere Personen, die von der Inquisition als „Narren, betrunkene deutsche Landsknechte, Zwerge und ähnliche Skurrilitäten“ betitelt wurden, kurz nachdem das Gemälde fertig gestellt worden war.
Wie auf einer Bühne präsentiert sich die ausgelassene Festmahlsgesellschaft. Trunkene, sich Betrinkende, Diener, Narren, gierig Schauende, Fressende, sich Abwendende, Zerstreute, Feiernde, und ein Hund ganz vorn, bei Jesus.
Kein Wunder, dass der Künstler Probleme mit der Inquisition bekam. Jesus unter solchen Säufern. Und überhaupt – zwischen der ganzen Edelarchitektur und dem Trubel fällt er fast nicht auf.

In der Accademia, wo Veroneses Gastmahl heute hängt, werden täglich Hunderte von Menschen durchgeschleust, Kulturtouristen, die mehr oder weniger andächtig stehen bleiben vor den Tafelbildern gotischer Ikonenmalerei oder den bewegten Szenerien in leuchtenden Farben der Renaissance. Millionen von Menschen reisen hierher, um ein Stück Vergangenheit in sich aufzusaugen. Texte, Mythen, Geschichten, die in unserer heutigen Zeit ihre Macht, ihre Wichtigkeit, ihre Bedeutung verloren haben. („Gott ist nur eine Phase in der Kunst und diese Phase ist vorbei“)
Menschenmassen schauen sich eine in die Jahre gekommene Kunst an. Wo und wie berührt sie eine Darstellung Jesu, wenn sie nicht mehr an ihn glauben? Dass Veronese sich damals vor der Inquisition rechtfertigen musste, an die künstlerische Freiheit appellierte und seinen Anklägern schließlich ein Schnippchen schlug, indem er einfach den Bildtitel änderte – ist das heute nicht nur noch ein nettes Anekdötchen?
Es gilt also, sich auf die Suche nach dem Zeitlosen zu machen. Nach dem, was über die Moden der Epochen, die Eigenheiten der Zeitalter, gültig bleibt. Wenn man heute das Vergangene aufsucht, sucht man mehr als das Vergangene.
Je mehr Wissen man anhäuft über die Kunstwerke, die man betrachtet, umso mehr Zugang findet man. Es ist wie das Lernen einer Sprache. Je mehr Wörter man kennt, umso mehr wird sie einem verständlich, umso mehr Inhalt transportiert sie. Je mehr Symbole, Motive, Figuren man wieder erkennt, je mehr man über die Zeit weiß, aus der das Werk stammt, umso mehr Details erschließen sich, umso mehr sagt einem die Kunst.
Es wäre jedoch fatal, die Kunst darauf zu reduzieren. Das Einordnen, Zuordnen, das Verstehen, ist doch sehr an Zeit und Umfeld gebunden. Außerdem ist es undenkbar, dass Kunst nur mit speziellem Wissen zugänglich sei. Das Zeitlose in der Kunst findet man also nicht, indem man sich Wissen über die Zeit und die Kunst aneignet.


Palladios Schriften über die Baukunst, die „Quattro Libri“, sind einzigartig, suchen noch immer ihresgleichen und haben Jahrhunderte lang die Architektur weltweit geprägt. – Wer von uns weiß das schon? –
Das Geniale an seinem Werk ist eigentlich, dass er zunächst seinen eigenen Ausdruck, seine Sprache fand, indem er Versatzstücke aus der Antike neu zusammensetzte und auf ihren Nutzen für den Menschen hin immer wieder überprüfte. Aus dieser Formensprache leitete er nun eine Art architektonische Linguistik ab. Er stellte Regeln auf, wie eine Grammatik, um die einzelnen Formenelemente rund und stimmig zusammenzufügen. Säulenordnungen, Friese, Fenster, Arkaden, Kuppeln, Tafeln, Skulpturen.
Würde eine Sprache nur aus Worten bestehen, die man willkürlich zusammensetzte, klänge sie recht holprig oder wäre vielleicht gar nicht möglich. Durch die Grammatik bekommt sie Struktur und wird klarer.
Palladio entwickelte seine Grammatik aus genauesten Beobachtungen der Natur und des Menschen, denen er die Maße für allgemeingültige Proportionen und Anordnungen entnahm.

Zurück zu den Touristen auf den warmen glatten Steinen vor der großen weißen Kirche, wenn sie mit Flipflops an den Füßen auf sie zu latschen. Vielleicht fällt ihnen auf, dass das Postament, das sich am Grunde der Fassade standfest entlang zieht, genau dort, wo Kniekehle und Hüfte sitzen, kleine Absätze hat. Aber dies ist unwahrscheinlich. Doch was sich bestimmt einstellt, spätestens, wenn sie die Kirche betreten haben, ist dieses äußerst angenehme Raumgefühl. Ein ganzheitliches Raumgefühl. Alles ist zwar riesig, vielleicht gar klobig, doch passt das eine Element zum anderen, wird hier und dort wieder aufgegriffen, steht für sich, und fügt sich gleichzeitig voll und ganz in die Gesamtkonstruktion ein. Alles ist stimmig.
Liegt das Zeitlose in diesem Gefühl? Einem Gespür? Der Atmosphäre? Der Benjaminschen Aura? Nicht reproduzierbar und nur an Ort und Stelle vor und mit und in dem Kunstwerk erlebbar?
Um das Zeitlose zu finden braucht man Zeit. Zeit, um sich von dem Kunstwerk aufsaugen zu lassen, um sich auf Einzelheiten einzulassen.


Vor einem Leinwandkoloss wie dem Gastmahl im Hause des Levi gibt es so viel mehr zu sehen als die Darstellung einer Bibelszene. Diese war Auftrag und Anlass für die Fertigung des Gemäldes - doch kann man das Motiv vielleicht als eine Art Rahmen für die künstlerische Freiheit in allen Details sehen?
Das, was bleibt, was auch ungläubige Betrachter im hier und jetzt noch berührt, ist der Blick des Künstlers auf den Menschen.
Veronese wurde vielfach eine Leichtigkeit nachgesagt. Und gleichzeitig erkennt man in seinen Menschendarstellungen eine unglaubliche Präzision, eine Beobachtungsgabe, in deren Genauigkeit etwas Liebevolles liegt. In den einzelnen Gesichtern findet sich enorme Lebendigkeit, kleine Geschichten werden über Blicke, Kopf- und Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke erzählt.
Die Nähe zum Weltlichen ist das, was Veroneses Werk auszeichnet und bei ihm noch viel stärker hervortritt als bei anderen Renaissancemalern. (Da wäre zum Beispiel Tintorettos Abendmahl zu nennen, das zwar revolutionärerweise Christus und seine Jünger in weltlichen Räumen mit Bediensteten verortet, doch immer noch mit Engeln und Lichteinfall einen starken Fokus auf das biblische Motiv setzt.) In Veroneses Bild sondern sich Christus und seine Jünger dezent ab, durch die wohl durchdachte Bildkomposition, die sie gemeinsam unter der mittleren Arkade vereint ruhen lässt. So sitzt das Sakrale wohl eingebettet in dem Profanen, und zieht das Göttliche hinunter auf die Erde – auch ein Zeichen der Renaissance.

In den warmen, glatten Steinen vor der Kirche: versteinerte Muscheln. Noch älter, noch vergangener - und wer sie entdeckt, ist erstaunt. Die Vergangenheit noch präsenter in dieser uralten Spur, umso gegenwärtiger, umso lebendiger wird die Stadt hier, heute, jetzt.

2 Kommentare:

venedig hat gesagt…

Die gerade gedruckten Teile über Palladio und Veronese finde ich jetzt sehr anschaulich und gut, vor allem am Anfang, wo der Blick von Venedig aus auf San Giorgio trifft.
Ich fände es spannend, noch mehr über die Bedeutung der Bilder für die Betrachter heute /die Touristen zu lesen.
Am Ende schreibst du einmal, eine Sprache ohne Grammatik wäre "holprig". Ich glaube, dass sie eigentlich unmöglich wäre - im Prinzip könnte man ja dann nur noch ganz einfache Äußerungen machen, etwa wie "Ja", "Nein", "Hallo" oder "Hunger" - aber mehr nicht?! Für Palladio finde ich das Beispiel mit der Sprache aber gut.

venedig hat gesagt…

Katharina