Freitag, 13. Juni 2008

Einstürzende Gebäude/Katharina Stockmann/Entwurf

Re:konstruktion eines Turms: Der Campanile von San Marco in Venedig

Den Bildern unserer letzten Nummer, die den Zustand vor dem Einsturz des Turmes zeigen, lassen wir heute ein solches folgen, das unmittelbar nach der Katastrophe aufgenommen wurde. Was dabei wohl am meisten auffällt, ist der verhältnismäßig kleine Schuttkegel, der durch den gewaltigen eingestürzten Bau gebildet wurde. Die enggezogenen Grenzen der Zerstörung zeigen, dass der Turm in des Wortes strengster Bedeutung in sich selbst zusammengestürzt ist.

An der südöstlichen Ecke der Piazza di San Marco, dort wo sie an die kleinere Piazzetta stößt, bildet sich jeden Tag ab halb neun eine Schlange. Schließlich lassen sich nur wenige Venedig-Besucher das Erlebnis entgehen, für acht Euro zur Aussichtsplattform des Markusturms hinaufzufahren. Aus den Arkaden des Glockenstuhls heraus haben sie einen weiten Blick über die Stadt und die Lagune bis zu den Industriegebieten von Mestre. Sie können sich sicher fühlen, schließlich befinden sich unter ihren Füßen 50 Meter solides Ziegelmauerwerk, dass nur durch winzige Fenster durchbrochen wird und dessen einziger Schmuck breite Wandpfeiler an allen Seiten sind. Ein fünf Meter großer goldener Engel wacht über ihren Köpfen – ganz oben an der Spitze des kupfergrünen Pyramidendachs. 

Der Einsturz erfolgte Montags den 14. d. M., vormittags vor 10 Uhr. Der Platz war vorher abgesperrt worden, da ein großer Riss am Turme sichtbar geworden war. Gleichsam das Signal zum Zusammenbruch gab der Absturz eines großen Steinblockes von der Nordostecke des Turmes; er schmetterte auf die Logetta nieder. Dann stürzte der Turm langsam in sich zusammen, entsprechend den Regeln der Statik und Dynamik, die die Herren Theoretiker bei der Niederlegung von hohen Türmen und Kaminen aufgestellt haben und worüber sich auch in unserer Zeitschrift wertvolle Aufschlüsse finden.

Wer in Venedig bauen will, muss einige Regeln beachten: Damit die Pfähle, auf denen die Grundmauern stehen, nicht zu tief in den Boden einsinken, muss die Konstruktion so leicht wie möglich sein. Das Gewicht sollte gleichmäßig auf die Fundamente verteilt werden, sonst kommt es zu einer einseitigen Absenkung und damit zur Schieflage des Gebäudes.
Ein Turm erfüllt keine dieser Vorgaben. Dennoch wurden im Jahr 888 über 100.000 Holzpfähle in den Mergelboden unter der Lagune getrieben um darauf einen Campanile zu bauen. Im Jahre 1517 war der Markusturm 98,6 Meter hoch, höher als alle anderen Gebäude der Stadt. Und tatsächlich wich er in den nächsten 400 Jahren um kein Grad von der Senkrechten ab. Nicht sichtbar waren dagegen die langsame Verschiebung des Erdreichs, der Druck auf die Fundamente, die Spannungen im Mauerwerk und die wachsende Porosität der Tonziegel.

Allen, die Venedig kennen, wird die Kunde von dem unerwarteten Einsturz des mächtigen Glockenturms von San Marco schmerzliche Gefühle erweckt haben. Denn Venedig ohne den Campanile von San Marco ist nicht mehr Venedig.

Während die Menschen noch staunend auf dem Trümmerhaufen am Rand der Piazza herumkletterten, stand der Beschluss bereits fest: Die Ziegel, die sich jetzt noch zu einer amorphen Masse auftürmten sollten sortiert, gezählt und nummeriert werden, Architekten kramten die alten Baupläne aus den Archiven und hohe Spenden aus dem Ausland gingen ein.
Der Markusturm von Venedig sollte wieder aufgebaut werden – com’era, dov’era: Wie er war und wo er war.

Warum kein Venedig ohne Campanile?

Wer sich nicht gerade vorgenommen hat, den Campanile zu fotografieren oder seine Aussichtsplattform zu besuchen, wird auf der Piazza di San Marco an ihm vorbeilaufen. Hoch aufstrebend, breit und massig wie er ist, übersehen ihn die Menschen, weil ihre Augen vom Rhythmus der Fassaden fort getragen werden, um sich in den Kuppeln und Zinnen der Markuskirche zu verlieren.
Was wäre der Platz ohne den Turm? Würde seine Einheit zerbrechen, seine Bögen, Säulen und Pilaster abrutschen wie Perlen von einer gerissenen Kette? Würde er zu einer nichts sagenden Ansammlung ehemaliger Verwaltungsgebäude und Renaissance-Plattenbauten abflachen? Oder wäre er einfach alltäglicher, heller und offener als zuvor?
Ihren Tag organisieren die Venezianer schon lange, ohne dass die Glocken von San Marco ihnen die Uhrzeit, den Feierabend oder Ratsversammlungen anzeigen müssen. Heute fügt sich das Geläut perfekt in den täglichen Venedig-Klangteppich ein und dringt kaum noch ins Bewusstsein.
Auch als Bezugspunkt in der Stadt enttäuscht der Campanile. Touristen, die mit einem Orientierungsbild aus den Medien nach Venedig kommen, müssen feststellen, dass der Turm in den engen Gassen der Stadt nicht einmal kurz vor dem Markusplatz zu sehen ist. Trotz des unbehaglichen Gefühls, eigentlich über Umwege geschickt zu werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den gelben Schildern über ihren Köpfen „per San Marco“ zu folgen.
Auch die Kreuzfahrtdampfer, die sich durch den Canale de Giudecca schieben, brauchen den Turm nicht mehr zur Navigation. Längst musste er seine Herrschaft über die Adria an Aida das Clubschiff abgeben.
Warum also der Wiederaufbau des Campanile com’era, dov’era? Wer braucht ihn noch und warum? Und was würde passieren, wenn er wieder einstürzt?

Was ist los mit Venedig? Die „Wahrnehmung zweiten Grades“

18:00: Austausch und Pause im Garten/Kreuzgang von Don Orione: Zehn Minuten für eure ersten Eindrücke von Venedig:
Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Stadt, das ist klar. Venedig kriegen wir nicht auseinandergefaltet, wir fahren den Canal Grande entlang und wissen: wie das Leben auch sei - so jedenfalls kann es nicht sein. Und trotzdem haben wir das doch alles schon einmal gesehen, sind wir hier überall schon einmal gewesen.
Durch die Stadt zu gehen, und auf Bekanntes zu treffen macht zufrieden und schläfrig, und doch ist leichte Panik ständig dabei. Die Angst, nicht entkommen zu können, gegen Kirchenmauern zu rennen, wie gegen Gummiwände und an den Palastfassaden abzurutschen.
Was ist los mit Venedig, warum ist es so schwer, diese Stadt zu begreifen?



These: Die Gestalt der Stadt Venedig reproduziert sich aus Bildern
Wiederaufbau des Campanile: Venedig wird den Bildern von Venedig angepasst. Die Bilder übernehmen die Oberhand.



2 Kommentare:

venedig hat gesagt…

Für den dritten Abschnitt habe ich Zitate aus den Texten von Isabel, Georg Simmel und Svenja verwendet und sie nicht gekennzeichnet. Bitte meldet euch also, wenn das nicht in Ordnung ist!

venedig hat gesagt…

Das mit den Zitaten ist in Ordnung, von meiner (Svenjas) Seite aus:)
Ich finde den Text sehr gut!! Gegenüber Montag ist der Aufbau nun wirklich sehr schön, der Leser wird gut an das Thema/den Turm herangeführt und du baust eine herrliche Spannung auf durch den Wechsel von Entstehung/Bedeutung und den Zeitungschnipseln, die seinen Einsturz kommentieren.
Am Ende ist aber noch ein Bruch drin - wenn du plötzlich zu unserer Reflexion springst, dabei irgendwie die SChreib- Exkursionsituation mit einbeziehst. Vielleicht kann man das noch wieder "ausbügeln"? Ich glaube, dass du die Fragen auch aufwerfen kannst, also die Unmöglichkeit sich ein Bild zu machen, ohne dabei so konkret unsere Besuchersitution zu nennen.
Ich bin gespannt auf den Rest:) Der Text gefällt mir wirklich sehr gut.

PS: Aus unserem Treffen heute ist wohl irgendwie nix geworden... ich bin auf jeden Fall zu Hause, konnte dich leider telef. auch nicht erreichen. Vielleicht bis später.