Sonntag, 8. Juni 2008

Venedig heute/Katharina Stockmann/Zufluchtsort

Venedig: Zufluchtsort

Im Jahr 2007 wurden 8.842.874 Übernachtungen in Venedig gezählt. Millionen Menschen also, die mit dem Flugzeug, dem Zug oder dem Auto angereist sind, die Nacht in einem Hotelbett verbracht und tagsüber zu Fuß Ziele im historischen Zentrum angesteuert haben.
Welchen Grund haben diese Menschen, eine Stadt zu besuchen, deren Geschichte bereits geschrieben ist, die mit allen Mitteln konserviert wird und deren Bewohner abwandern?
Der Werbetext für das Hotel Charming House auf der Internetseite www.escapio.de gibt eine Antwort: Venedig macht die „romantische Flucht aus dem Alltag“ möglich. Hans-Josef Ortheil schreibt unter dem Titel „Oasen für die Sinne“ über die Lagunenstadt und ein Veranstalter von Hochzeitsreisen verspricht „einen Hort der Inspiration und Zuflucht“. Es geht also darum, sich zurückzuziehen und aus täglichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen in eine neue Umgebung zu entkommen.
Venedig eignet sich besonders gut als Zufluchtsort, weil es so geschlossen ist. Weder werden die Ohren hier von Autolärm gestört, noch die Augen von moderner Architektur, Verkehrsampeln oder U-Bahnstationen. Wer nach Venedig reist, wird keine großen Überraschungen erleben, weil die Stadt auch wirklich so aussieht, wie sie von Bildern und aus Filmen bekannt ist. Außer den Touristen selbst fällt hier kein Detail aus dem Rahmen, sondern alles, von den verwaschenen Farbverläufen der Häuserfassaden bis zum trägen Schwappen der Kanäle, fügt sich in die Venedig-Erwartung der Ankommenden ein.
Das deutsche Gourmetmagazin A-la-Carte beschreibt Venedig als „Zuflucht für Besucher aus aller Welt, die hier die Vergangenheit als Gegenwart erleben“. Weil es sich, bis auf seinen stetigen Verfall, seit Jahrhunderten nicht verändert hat, weder wachsen noch untergehen wird, bietet Venedig einen Kontrast zu einer Gegenwart, die als Belastung empfunden wird.
Seine Bestimmung als Zufluchtsort, die bereits mit der Stadtgründung beginnt, hat Venedig also bis heute nicht verloren. Im 5. Jh. n. Chr. waren es die Westgoten und Hunnen, die die Menschen auf die unwirtlichen Salzwiesen der Lagune trieben. Heute ist es der nostalgische Wunsch, aus einer urbanisierten und vernetzten Welt in ein Stück vermeintliche Vergangenheit zurück zu reisen, für den sich Millionen Menschen in Venedig versammeln.

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