Dienstag, 20. Mai 2008

Stadtgerüst/ Janina Rohlik/ So viel Touristen so wenig Raum der bleibt

32 876 Touristinnen und Touristen schieben sich Tag für Tag durch die schmalen Gassen Venedigs, über die Vielzahl an Brücken, von denen keine wie die andere aussieht, über die Piazza und die übrigen Plätze, die nicht so heißen dürfen, in die Hinterhöfe und „versteckten Winkel“, die als „Insider-Tipps“ eingeklemmt in den Reiseführer-Rundgängen empfohlen werden.

Heute wird die Lagunenstadt nur mehr von 66 000 Menschen bewohnt, 1970 waren es noch 100 000.

Was strukturiert eine Stadt, was bildet ihr Gerüst?

Sicherlich spielt für Venedig die besondere Geographie eine entscheidende Rolle, lässt ihr Gerüst noch mehr Gerüst sein als dies in anderen Städten der Fall ist.

Doch das, was eine Stadt zur Stadt macht, ihr Leben und das Leben in ihr, ihre Dynamik und ihren Rhythmus bestimmt, ist mehr als die geografische Grundstruktur.

Das ist Geschichte, das sind Geschichten, das ist Bewegung und das ist Stillstand.

Venedig, oft als „Inselstadt“ bezeichnet, ist eigentlich ein Konglomerat von über 100 kleinen Inseln, die sich, durch Brücken miteinander verbunden, als Netz über die Sümpfe der Lagune spannen. Von stillstehenden Wassern durchzogen verschwimmen natürliche Gegebenheiten mit kunstvoll künstlich Erbautem.

Venedig ist eine Stadt, die auf toten Bäumen steht.

Eichen- oder Lärchenstämme, eng nebeneinander in den schlammigen Grund der Lagune gerammt, mit Ziegeln und Steinen bedeckt: Das modrige, marode, morsche Gerüst dieser Stadt ist das, was wirklich versteckt bleibt. Auch und gerade vor den Touristen.

In der Innenstadt sind es die Touristenmassen, die die Bewegungen und den Rhythmus dominieren. Wer hier wohnt, nimmt Umwege. So strukturiert sich die Lagunenstadt durch ein Wechselspiel von Bewegung und Gegenbewegung, die darin besteht, der Bewegung auszuweichen.

Viele derer, die Umwege nahmen, sind schon fast ganz und gar ausgewichen. Horrende Mietpreise, Ratten und Touristen drängen Jahr für Jahr 1000 Venezianer und Venezianerinnen aufs Festland. Nach Mestre zum Beispiel oder zu den Giftfabriken Porto Margheras. An die Ränder der Stadt, an die der Abfall des falschen Glanzes Venedigs geschwemmt wird.

Im Nordwesten ist die Lagunenstadt über einen Bahn- und einen Autodamm mit dem Festland verbunden. Ist diese Verbindung, die nicht selten verächtlich als strukturelles Element betrachtet wird, das die Insel zum Teil des Festlandes werden lässt, das Tor nach innen oder nach außen? Oder beides?

Einerseits ermöglichen die Dämme das Strömen unzähliger Reisender hinein und hinaus, wie zur gleichen Zeit immer wieder andere Reisende auch hinein und hinaus strömen und immer so fort.

Andererseits sind die Wege zum Festland auch die Wege aus einer Stadt, die mehr und mehr zum Raum für meist nur temporär anwesende Reiche wird. Beispiel für Gentrifizierung. Soziale Umstrukturierungsprozesse in einer Stadt, Aufwertung des Wohnumfelds durch Veränderung der Bevölkerung. Oder, im Falle Venedigs: durch faktisches Verschwinden der Bevölkerung.

Wobei die Gentrifizierung hier vielleicht ehrlicher ist als in anderen Städten: Sie baut auf sandigen Grund.

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