Sonntag, 22. Juni 2008

220608/ Marion Starke/ Tintorettos Verkündigung

Jacopo Tintoretto: "Die Verkündigung". 1583–1587, Scuola Grande di San Rocco, Venedig

Die Malschule Scuola Grandi di San Rocco aus dem 16. Jh. ist durch ihren außerordentlichen Besitz über sechsundfünfzig Bilderzyklen von Tintoretto berühmt. Alle drei Säle der Scuola wurden von Tintoretto mit Gemälden bestückt/beschmückt, auch die Deckengemälde stammen von ihm, so dass die Scuola als sein Gesamtwerk angesehen werden kann. Die Gemälde sind eine der bedeutendsten Bildersammlungen der Welt und der umfangreichste biblische Zyklus der ital. Kunst. Angefangen mit Adam und Eva, hat Tintoretto bis hin zur Erlösung der Menschen durch den Opfertod Christi den christlichen Glaubenskosmos entworfen.

Das Bild, das dem Besucher der Scoula di San Rocco als erstes ins Auge fällt, ist die Verkündigung des unteren Saals. In besonders dynamisch-dramatischer Weise erzählt Tintoretto hier die Verbindung der tranzendenten und der irdischen Welt.

Erzengel Gabriel fliegt in vollem Schwung ins Gemach der Maria. Das Haus ist einem Abbruchhaus gleich: bröckelnde Wände, ohne Tür und Fenster. Im Kontrast dazu stehen der Fußboden aus zweifarbigem Marmor und die kostbare Kassettendecke. Vor allem aber der prächtig rot leuchtende Baldachin, der üppig über das Bett im Hintergrund trohnt. Die jungfräuliche Maria, fleißig und fromm, mit Nähkorb, Spindel und Lektüre im Schoß. Sie wird überrascht vom Einfall Gabriels. Überfall. Über ihm fliegt eine ganze Putti-Schar. Wirbelwind. In helldunkelen Lichtern und Schatten überstrahlt die Taube des Heiligen Geistes das Geschehen. Der bibelkundige Bildbetrachter weiß um die Verkündigung und den Verweis auf die Taube: “Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.” (Lk 1,35).

Im linken Teil des Bildes, draußen, vor einem hellen Morgenhimmel, sägt der tüchtige Josef Holzbretter zurecht. Er arbeitet an der Wiederherstellung einer venezianischen Palastruine. Alles recht virtuos gemalt. Ein Rebus ist der leere Stuhl. Ein ganz einfacher Stuhl, in der Mitte des Bildes angeordnet, grad unter dem leuchtenden Erzengel, und gegenüber der erschrockenen Maria. Ein Sperrmüllstuhl mit zerschlissenem Bastgeflecht. Ein Platz. Ein Platz für wen auch immer.

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